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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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den dahinjagenden Wolken, und der Aufstieg war gerade schwierig genug, um ihre Konzentration zu beanspruchen. Als sie gegen Mittag auf der Hügelkuppe ankam, ging es ihr schon besser. Aber sie wagte es immer noch nicht, zu ausgiebig an ihren Vater zu denken. Da war sie ihm nach all der langen Zeit so nahe gewesen, nur um ihn wieder zu verlieren Prinz Eneas und seine Hauptleute planten schnelle Überraschungsangriffe, um Sulepis' Truppen bei Südmarkstadt zu beschäftigen und zu verhindern, dass Nachschubtransporte die Xixier erreichten. Letzteres war weitgehend sinnlos, solange der Autarch noch die Brennsbucht kontrollierte, aber wenigstens wollte Eneas dem Autarchen klarmachen, dass er Feinde nicht nur vor sich, sondern auch im Rücken hatte.
    Obwohl Briony von dem syanesischen Prinzen und seinen Truppen im Grund nicht mehr erwartete, ließ sie doch der bittere Gedanke nicht los, dass man ihren Vater in die Felstiefen verschleppt hatte. Warum sollte man ihn in die unterirdischen Gänge unter der Burg gebracht haben? Welchen Irrsinn plante dieser Autarch?
    Ihr Vater hatte ihr doch erzählt, dass in der Nähe der Burg seine schlimmen Zustände zurückgekehrt waren. Konnte der Grund, warum ihn der Autarch hierhergebracht hatte, irgendwie damit zu tun haben? Und dann hatte ihr Vater noch etwas von Göttern gesagt und von Mittsommer, was schon in wenigen Tagen
war.
    Wenn ich nur länger mit ihm reden könnte. Wenn ich ihn nur noch einmal sehen, noch einmal umarmen könnte ...
Wieder kamen ihr die Tränen.
    Briony zog Lisiyas Amulett heraus und drehte es in den Fingern, in der Hoffnung, etwas innere Ruhe zu finden. So viele Fragen und keine Antwort in Sicht. Und unterdessen glitt die Sonne dahin, hinter Wolken und wieder hervor, und Mittsommer rückte unerbittlich näher.
    Trotz der Hügelbesteigung lag sie an diesem Abend noch lange wach, während draußen die Soldaten redeten, leise sangen und würfelten. Der Trupp, den der Autarch auf die Suche nach den Angreifern geschickt hatte, war längst wieder in das xixische Lager an der Brennsbucht zurückgekehrt, also genossen Eneas' Männer die relative Sicherheit.
    Briony hielt das Amulett immer noch fest umfasst.
Bitte, liebe Lisiya,
betete sie,
hilf mir, schlafen zu können. Ich habe das Gefühl, dass ich verrückt werde, wenn ich heute Nacht keinen Schlaf finde!
Doch als der Schlaf schließlich zu vorgerückter Nachtstunde kam, fühlte es sich nicht so an ...
    Sie ging durch etwas, das einmal ein Wald gewesen war, tief und grün und still — vor dem Feuer. Jetzt war es eine versengte Wüstenei, gespickt mit den schwarzen Gerippen von Bäumen, das Gras und das Unterholz weggebrannt, die Erde selbst verkohlt. Die Tageszeit ließ sich nicht bestimmen, weil über allem ein Rauchschleier lag, der den grauen, heißen Himmel so flach wirken ließ wie einen Suppenteller. Noch immer stiegen kleinere Rauchfetzen auf, als ob die Flammen erst vor kurzem erloschen wären.
    Als sie durch diese verbrannte Stoppellandschaft ging, merkte sie plötzlich, dass sie Lisiyas Amulett fest an ihre Brust presste.
    Briony fand die Halbgöttin am Fuß einer bizarren Holzkohleskulptur, die einst eine mächtige Silbereiche gewesen war. Lisiya stützte sich auf einen Stab und war so grau und dünn wie ein Pusteblumensamen. Sie schien nur noch die Hälfte ihrer selbst, als ob der heiße Wind alle Feuchtigkeit aus ihr herausgesaugt und nur Haut und Knochen übriggelassen hätte.
    »Jemand ist zornig auf mich«, sagte sie mit einem matten Grinsen.
    »Wer hat das getan?«, fragte Briony. Die Halbgöttin sah so zerbrechlich aus, dass sie sich ihr kaum zu nähern wagte.
    »Ich kann es nicht sagen. Ich werde beobachtet.« Lisiya hob eine klauenartige Hand. »Der Himmel selbst lauscht.«
    »War das meinetwegen?«, fragte Briony und sank auf die Knie. »Weil Ihr mir geholfen habt?«
    »Möglich.« Lisiya zuckte die Achseln. Die Halbgöttin hatte bisher immer so gewirkt, als besäße sie unerschöpfliche Kräfte, aber jetzt bewegte sie sich, als könnten ihre spröden Knochen bei der geringsten Anstrengung brechen. »Spekulieren ist sinnlos, Kind. Die Götter schlafen, und das macht es schwer, sie zu verstehen oder auch nur zu erkennen ...«
    Briony verstand nichts. »Kann ich Euch irgendwie helfen?«
    Der Schatten eines Lächelns huschten über das hagere, runzlige Gesicht. »Hör zu, ich will dir sagen, was ich sagen kann. Aber ich bin ... eingeschränkt.« Sie sank etwas in sich zusammen, richtete sich aber

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