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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Tempel aufgebrochen, aber erst am Feuertag dort angekommen — ein Loch von mehr als einem vollen Tag. Tatsächlich erinnerte er sich auch nur sehr verschwommen an seinen Aufenthalt in Funderlingsstadt, und was ihn dort hingeführt hatte, wusste er gar nicht mehr. Er wusste nur, dass es etwas Wichtiges gewesen sein musste, wenn er deshalb hingegangen war, umso seltsamer also, dass es ihm nicht mehr einfiel. Das machte ihm Angst.
    Es war nicht das erste Mal, dass er solche Erinnerungslücken hatte. Damals, vor dem Winterfestabend, an dem Briony mit Shaso aus Südmarksburg geflohen war, war er irgendwo anders gewesen als auf der Burg oder zumindest irgendwo anders als in seinem Haus in der Vorburg, aber er konnte sich nicht mehr erinnern wo.
    Er blickte wieder in die Höhlenkammer vor sich, auf die Menge zusammengedrängter, überwiegend stummer Gestalten, deren Augen im Düsteren glommen wie Sumpflicht, und fragte Antimon leise: »Wenn wir nicht aus dem eigenen Kopf hinauskönnen, wie kann man dann wissen, ob man verrückt wird?«
    Der junge Mönch schwieg eine ganze Weile. Er war groß für einen Funderling, reichte Chaven aber dennoch nicht mal bis zur Schulter; seine Stimme schien vom Steinboden herzukommen, als spräche die Höhle selbst.
    »Man kann es nicht wissen. Nicht mal ein König, würde ich sagen ... von diesem Autarchen heißt es ja, dass er wahnsinnig ist. Ja, jetzt, wo ich darüber nachdenke, Chaven — selbst ein Gott könnte nicht wissen, dass er den Verstand verloren hat, wenn er ihn denn verloren hätte.«
    »Besten Dank, Antimon«, sagte der Arzt. »Ihr habt mir noch mehr Grund zur Beunruhigung gegeben.« Er hoffte, dass es spaßiger klang, als ihm zumute war.

    »Ich will ja nicht unhöflich sein«, begann Ferras Vansen, »aber Funderlinge — und auch größere Menschen — sind nicht so geduldig wie Euresgleichen. Eure Herrin hat den Zeitpunkt für die Versammlung festgesetzt, und trotzdem ist sie nicht nur nicht gekommen, sie hat noch nicht mal eine Nachricht geschickt, warum nicht. Die Stunden vergehen. Die Leute werden unruhig.«
    Aesi'uah hielt die Hände so vor den Mund, als wollte sie ein solchermaßen beschirmtes Flämmchen anblasen. »Bitte, Hauptmann Vansen, Ihr versteht nicht ...«
    »Nein, Eure Herrin versteht etwas nicht.« Er widersprach ihr nicht gern. Die Obereremitin war ruhig, anmutig und auf ihre Art freundlich; im Streit mit ihr kam er sich plump und roh vor. »Meine Verbündeten haben ein mutiges Zugeständnis gemacht. Sie haben ihre Tore Eurem Volk geöffnet, obwohl ihr Qar vor Tagen erst Funderlinge an der Schwelle ihrer eigenen Stadt getötet habt. Und mehr noch, sie haben euch sogar einen Lagerplatz für eure Armee zur Verfügung gestellt — einen Platz zwischen ihnen und ihrer heiligsten Stätte ...«
    »Der Grund dafür ist unser gemeinsamer Todfeind, der Autarch von Xis«, sagte sie, was jedoch Vansens Ärger nicht minderte.
    »Ja, aber
uns
drohte keine unmittelbare Gefahr durch den Autarchen. Die Bewohner von Südmarksburg befanden sich im Schutz ihrer Festungsmauern, die Funderlinge hier unten im Fels. Euer Heer droben in seinem Lager war am stärksten gefährdet.«
    Sie schwieg mit einer Miene, als lauschte sie auf etwas, das er nicht hören konnte. Wahrscheinlich unterhielt sie sich im Kopf mit Yasammez, auf dieselbe lautlose Art, wie er einst Gyirs Worte vernommen hatte, aber das zu wissen, machte es auch nicht leichter. So verhielt sie sich etliche Male pro Stunde, und es erinnerte ihn ständig daran, dass, so höflich sie ihm auch zuzuhören schien, doch nichts ohne die Einwilligung ihrer Herrin geschehen würde.
    »Bitte, Hauptmann«, sagte sie schließlich. »Tausend Jahre Hass und Misstrauen lösen sich nicht im Handumdrehen in Luft auf.«
    »Oh, glaubt mir, Mylady, das weiß ich nur zu gut.«
    »Seht da«, sagte Aesi'uah und deutete mit der schlanken Hand auf die Menge bizarrer Gestalten, die die natürliche Felsgalerie bis an die Wände füllte — wohl tausend Qar allein in dieser Höhlenkammer. »Wir haben bereits etwas getan, das nicht mehr geschehen ist, seit die Erde jung war. Versteht doch, dass meine Herrin eigene Probleme zu bewältigen hat, guten Teils solche, die zu subtil sind, als dass ich sie jemandem erklären könnte, der nur ein Jahrhundert lebt.«
    Zu Vansens Erstaunen schmerzten ihn ihre Worte, obwohl sie nur die Wahrheit wiedergaben — er war nicht wie sie, ganz und gar nicht. Der Schmerz rührte von dem her, woran sie ihn erinnerten,

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