Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
und innen mit Wachs und Baumwolltuch abgedichtet: ein Fund, über den sein Vater hocherfreut gewesen war, weil er ihm, wie er sagte, garantiert ein paar Silberstücke einbringen werde. Ja, diesem Honigfass, dachte Rafe, verdankte er es wohl letztlich, dass ihm sein Vater das Boot geschenkt hatte. Rafe tätschelte das stabile und dennoch leichte Gerippe der
Robbe.
Der Erlös für das nächste Honigfass würde ihm gehören. Vielleicht konnte er dann ja Ena eine Hochzeitskette kaufen.
    Er glitt durch die Geisterflotte und schlug dann einen weiten Bogen die Marrinswalker Halbinsel entlang. Die Sonne würde bald aufgehen, er durfte nicht zu lange draußen bleiben. Bei Tageslicht würde es viel schwieriger sein, unbemerkt wieder zurückzukommen. Aber er konnte ja sagen, er sei beim Reinigen der
Robbe
im Bootsschuppen eingeschlafen. In seiner Jugend hatte das oft genug geklappt.
    Eine Bewegung am Ufer riss ihn aus seinen Überlegungen. Er starrte hin, versuchte dahinterzukommen, was er da sah — etwas Großes, das fast an der Wasserkante stand, umhüllt von flatterndem Tuch. Was war das? Irgendein angeschwemmtes Stück Treibgut, das ein anderer Sammler gefunden hatte und später abholen wollte? War es deshalb mit diesem schäbigen Umhang zugedeckt? Glaubte da jemand ernsthaft, das genüge, um es als seinen Besitz zu markieren?
    Rafe paddelte landwärts, bis das Wasser so flach war, dass er nicht mehr weiterkam, ohne auszusteigen. Das Etwas dort, wo das Wasser an den felsigen Strand brandete, war menschenförmig, aber bis auf das Flattern des zerschlissenen Tuchs vollkommen bewegungslos. War es eine Statue? Oder war da ein einsamer Wanderer im Stehen gestorben? Rafe hatte schon öfter Tote am Strand gefunden, meist Ertrunkene, manchmal aber auch Leichen, die so unversehrt wirkten, als hätten die Betreffenden einfach nur ein einsames Plätzchen aufgesucht, um in Ruhe zu sterben. Einen stehenden Toten hatte er allerdings noch nie gesehen. Ihn gruselte.
    Da drehte sich die Gestalt um.
    Rafe stieß einen entsetzten Laut aus und paddelte rückwärts. Es war etwas Lebendiges — etwas, das absichtlich an diesem einsamen Stück Strand stand.
    Die Gestalt hob langsam die Hand und winkte. Rafe konnte nur erschrocken hinstarren. Der Arm ging höher empor und machte eine größere, aber zugleich steife Bewegung, als ob das Etwas in dem flatternden Mantel sehr alt oder sehr schwach wäre. Kein Zweifel: Es winkte Rafe zu sich.
    »Was wollt Ihr?«, rief Rafe. »Wenn Euch Euer Leben lieb ist, legt Euch nicht mit mir an! Ich schlage Euch den Schädel ein, eh Ihr auf drei zählen könnt!«
    Die Gestalt winkte nur abermals. Jetzt gewann Rafes Neugier die Oberhand. Geschickt stieß er das Boot näher heran und inspizierte die Erscheinung genauer — oder jedenfalls das bisschen, das er von ihr sehen konnte. Der Fremde trug ein zerschlissenes, dunkles Gewand mit einer Kapuze, die ihm ins Gesicht hing, und die Hände schienen ganz und gar mit dreckigen, alten Leinenstreifen bandagiert. Wieder überlief Rafe ein Gruselschauer. Das Donnern der Brandung ließ für den Moment nach, sodass er jetzt die Stimme des Fremden hören konnte — oder jedenfalls ein lautes, kratziges Atmen. Es war ein unheimliches Geräusch, bewies aber immerhin, dass die Erscheinung kein Geist war.
    »Was wollt Ihr von mir?«, fragte er wieder.
    Rafe sah nur das matte Glänzen der Augen in den Tiefen der Kapuze, als der Fremde auf sein Boot deutete und dann die verbundene Hand langsam auf die Burg in der Buchtmitte richtete. Was das heißen sollte, war klar.
    »Ihr wollt, dass ich ... Euch dort hinbringe?« Er lachte und hoffte, dass es für den Fremden kaltblütiger klang als in seinen eigenen Ohren. »Macht Ihr Witze, Mann? Warum sollte ich Euch übers Wasser bringen? Wenn Ihr ein Spion der Südländer seid, dann bestimmt kein guter, mit diesen Verbänden da und Eurer finsteren Kostümierung — wie aus einem Kerneia-Umzug entsprungen!«
    Der Mann zeigte nur wieder mit dem Finger.
    »Warum, habe ich gefragt. Warum sollte ich?«
    Der vermummte Fremde ließ die Hand sinken. Dann machte er sich am Knoten seines Gewandgürtels zu schaffen. Rafe befand, dass er nicht sehen wollte, was unter dem Gewand war, und paddelte wieder ein Stück zurück, doch die Erscheinung hatte Schwierigkeiten mit dem Gürtel. Rafe ließ sich treiben, das tropfende Paddel in der Luft. Was machte diese absurde Kreatur da?
    Endlich bekam der Fremde den Gürtel auf, doch statt den Mantel auszuziehen,

Weitere Kostenlose Bücher