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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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jetzt wurde etwas im Dunkel auf sie aufmerksam. Es tauchte weniger auf, als dass es sich enthüllte, und die Hülle, die es abwarf, war das Dunkel, in dem das Etwas lebte, so wie ein riesiger Walfisch im Wasser lebte oder ein gewaltiges Gewitter in der Luft. Es war zu groß, um lebendig zu sein — das ergab keinen Sinn! —, aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dieses Etwas zu verstehen, ja fast schon dieses Etwas zu
sein ...
    Doch je deutlicher Qinnitan sein monströses, kaltes Interesse fühlte, desto größer wurde ihre Furcht. Es kam näher, und seine schiere Gegenwart bewirkte, dass sie zitterte und zerlief wie ein Ölfleck — noch näher, und sie würde sich auflösen! Aber es kam noch näher, und plötzlich verstand Qinnitan, dass das Gottwesen etwas von ihr wollte — das hatte sie noch nie gefühlt. Sonst hatte sie sein raubtierhaftes Interesse einfach nur als ebendieses empfunden, als das Anpirschen eines Jägers, und sie war die unglückliche Beute, gefesselt und diesem gnadenlosen Etwas ausgeliefert. Von einer ganz anderen Art Angst erfasst, erkannte sie, dass es sie diesmal nicht verschlingen wollte, nicht im üblichen Sinn. Dieses unmögliche Etwas wollte sie
benutzen,
in sie fahren, damit es die Leere durchqueren und ins Land der Wachen und Lebenden zurückkehren konnte.
    Qinnitan wusste, sie würde es niemals überleben, ihren Platz in der Welt mit etwas so Mächtigem und Fühllosem zu teilen — jeder Augenblick, den es in ihr wohnte, würde einen Teil der wahren Qinnitan wegbrennen. Aber genau deshalb, wurde ihr klar, flößten sie ihr das Sonnenblut ein: um sie zu einem Gefäß für den Gott zu machen, einem gastlicheren Heim für diese grässliche Präsenz, die schon Jahrtausende nicht mehr auf Erden gewandelt war. Und sie kannte nichts dagegen tun. Um Mitternacht würde entweder sie oder König Olin diesem schrecklichen Etwas als eine Hülle dargeboten werden, die es bewohnen konnte.
    Lautlos schreiend schwamm Qinnitan durch das Schwarz empor, getrieben vom verzweifelten Drang zu fliehen. Geduldig wie der Tod selbst ließ das Etwas sie gehen; es musste ja nur noch ein klein wenig warten, bis es alles bekommen würde, was es wollte.

    Die Hände hinterm Rücken gefesselt — was schnell, aber effizient erledigt worden war — und den Sack überm Kopf, wurde Chert über unebenen Boden getrieben. Er hörte noch immer Kanonenfeuer, jetzt aber etwas schwächer. Dem Geräusch des Meeres nach, dachte er, brachte man ihn zur Nordlagune. Die Männer, die ihn gefangen genommen hatten, redeten kaum miteinander, und wenn sie auch nicht gerade freundlich zu ihm waren, behandelten sie ihn doch nicht roher als nötig, woraus er entmutigt schloss, dass es Soldaten sein mussten. Das wiederum hieß, dass es Tolly-Leute waren, und dass er so schnell ergriffen und überwältigt worden war, ließ darauf schließen, dass sie ihn erkannt hatten.
    Er wankte und fiel fast hin, als ihm klar wurde, dass er vielleicht weder Opalia noch Flint noch Funderlingsstadt jemals wiedersehen würde. Wenn sie ihn hinrichteten, würde er vielleicht überhaupt nichts anderes mehr sehen als die Innenseite dieses stinkenden Sacks ...
    Chert blieb stehen und stemmte die Füße in den Boden. »Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe Ihr mir sagt, wo Ihr mich hinbringt«, sagte er und hörte beschämt, wie seine Stimme zitterte. »Wenn ich sterben soll, sagt mir wenigstens, warum. Und wer meine Mörder sind.«
    »Vorwärts, du halbe Portion«, knurrte einer der Männer und gab ihm einen Stoß, der ihn weiterstolpern ließ. Der Mann hatte einen Akzent, den Chert nicht einordnen konnte — vielleicht war es ja ein krakischer Söldner. Chert hatte Gerüchte gehört, dass Tolly ausländische Hilfe gesucht habe, als klar gewesen sei, dass die Qar auf Südmark zumarschierten.
    Schließlich wurde er durch eine Tür gestoßen, und unter seinen Füßen knirschte ein mit Binsen bestreuter Fußboden. Dann packten ihn Hände grob an den Schultern und drückten ihn auf einen Schemel. Im nächsten Moment wurde ihm der Sack vom Kopf gerissen. Als er ausgeblinzelt hatte, betrachtete er die seltsame Gestalt, die ihm auf einem Stuhl gegenübersaß. Wegen der Rüstung glaubte er zuerst, es sei ein Mann, ein Jüngling dem Gesicht nach, merkte dann aber schnell, dass es eine Frau war, die ihn gelassen-interessiert musterte. Ihr goldenes Haar war kurz geschnitten, ihr ernstes Gesicht auf eine, wie Chert nicht umhin konnte zu befinden, höchst unweibliche Art

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