Das Herz
fürchtete Unbill. Er durfte jetzt wirklich keine Zeit mehr verlieren.
»Und ich würde Euch gern noch weiter helfen, Hoheit, aber ich habe selbst etwas zu erledigen — etwas, das genauso wichtig ist wie Euer Vorhaben, wenn ich das sagen darf, ohne anmaßend zu sein, ja vielleicht sogar
noch
wichtiger. Wichtig für Euer Volk und für meins. Und die Zeit drängt.«
Sie dachte über seine Worte nach. »Ja, die Zeit drängt — um das zu erkennen, braucht es nicht die Weisheit eines Gottes. Tut, was Ihr tun müsst. Ich hoffe, wenn wir beide überleben, können wir uns eines Tages ausführlicher über die Unternehmungen dieser Nacht unterhalten, Chert von den Funderlingen, ich habe da nämlich noch etliche Fragen. So scheint Ihr mir beispielsweise sehr vertraut mit dem Haus des königlichen Leibarztes ...«
»Ich ... war schon dort. Ein, zwei Mal.«
»Dachte ich mir. Versprecht Ihr mir also eine solche Unterhaltung?«
»Es wäre mir eine Ehre, Hoheit. Aber wie Ihr schon sagtet, es geht nur, wenn wir beide überleben. Passt auf Euch auf, Prinzessin. Euer Volk möchte Euch nicht verlieren, nachdem Ihr gerade erst zurückgekommen seid.«
Sie lachte leise. »Und Eure Leute würden sicher auch wollen, dass Ihr auf Euch aufpasst. Geht mit Zoriens Segen.«
»Und mögen Euch die Alten der Erde schützen, Hoheit.«
Dann war sie so lautlos wie eine Katze die Stufen hinuntergeschlüpft, und Chert stand allein in Chavens Tür.
Der Mond hing hoch am Himmel; er war fast voll, eine schiefe weiße Traube, die so viel Licht gab, dass Chert mit seinen scharfen Funderlingsaugen sich ziemlich auffällig vorkam, als er im Schatten der inneren Mauer den Zwinger durchquerte. Die Kanonen waren endlich verstummt, aber die Wachen auf der Mauer brüllten immer noch Beleidigungen auf die Syanesen im äußeren Befestigungsring hinab.
Die Burg war ganz anders, als er sie in Erinnerung hatte — so viel Zerstörung in so kurzer Zeit! Überall lagen Trümmer und Schutt, und die einst so hübschen Rasenflächen waren unter notdürftigen Flüchtlingsbehausungen verschwunden. Doch das improvisierte Dorf endete jäh am Palasthügel, den ein Ring von bewaffneten Wachen umgab — ein eindeutiges Signal, dass Tolly nicht willens war, kampierende Bauern an seiner Türschwelle zu dulden.
Indem er sich immer im Schatten hielt und bei jedem unbekannten Geräusch und jeder Bewegung in seiner Umgebung erstarrte, als wäre er tatsächlich ein Kaninchen, arbeitete Chert sich langsam durch den inneren Zwinger, über dem der Mond immer kleiner und kälter wurde, je höher er stieg. Eine einsame Glocke in einem Palastturm schlug gerade Mitternacht, als Chert die efeuberankte Familienkapelle der Eddons an einer Ecke der Thronhalle erreichte. Es war der einzige Ort, der ihm einfiel, um an das zu gelangen, was er brauchte. Das Problem war nur: Nachdem er bereits den Einschlag einer Kanonenkugel nur knapp überlebt hatte und dann in einen Sack gesteckt und verschleppt worden war, lag das Anstrengendste jetzt noch vor ihm. Er musste aufs Dach der Kapelle klettern.
So heftig schnaufend, dass ihm kleine Blitze vor den Augen zuckten, und trotz der kühlen Nachtluft schweißgebadet, schaffte es Chert schließlich, sich über die breite Bleidachrinne auf das Ziegeldach zu ziehen. Eine ganze Weile konnte er nur auf dem Rücken liegen und nach Luft schnappen. Schließlich setzte er sich auf und wischte sich die Stirn. Das Dach war leer bis auf den prallen Mond, der zwischen zwei Kaminen hing, als hätte ihn jemand gewaschen und zum Trocknen dort aufgehängt.
So laut er sich irgend traute, rief er: »Dachlinge! Untertanen der Königin Altania, ich bin's, Chert von den Funderlingen — ein Freund! Ich brauche euch.«
Nichts geschah. Er versuchte es noch mal, sicher, dass ihn irgendwo im Dunkel der Innenhöfe oder der schmalen Straßen jemand hören musste, ja dass dieser Jemand vielleicht schon loslief, um Tollys Soldaten zu melden, was er gehört hatte. Auf den Dächern aber rührte sich nichts. Doch als gerade erwog, sich wieder hinzulegen und ein bisschen auszuruhen, um dann einen neuen Versuch zu machen, wenn der Mond hinterm nächsten Turm versunken war, hörte er ein Rascheln, und als er aufblickte, sah er über sich auf dem Dachfirst, vor dem pergamentfarbenen Mond, eine winzige Gestalt kauern.
»Was begehrt Ihr von ihrer vortrefflichen und unvergessenen Majestät?«, wollte der winzige Bursche wissen. Chert kroch ein Stück die Dachschräge hinauf, um
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