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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Mitternacht,
dachte sie. Draußen waren das Kanonenfeuer und die Rufe verstummt, wenigstens bis zum Morgengrauen, wenn beides zweifellos wieder einsetzen würde. Mittsommer selbst würde ein weiterer heiliger Festtag sein, den dieser endlose Krieg ruinierte.
    »Es war Kerneia«, sagte Merolanna plötzlich, als hätte auch sie gerade an religiöse Feste gedacht. »Ja, das muss es gewesen sein, denn die Leute waren auf der Straße, alle schwarz gekleidet, und haben Knochen geschwenkt. Aber was mir solche Angst gemacht hat, war der Wagen, der große Festwagen. Er war geschlossen, wie er's immer ist, aber dort drinnen war etwas. Etwas Lebendiges, in dem großen, schwarzen Holzkasten auf dem Wagen. Überall auf der Straße wurden die Seile angezogen, um den Wagen in Bewegung zu setzen, aber ich wusste als Einzige, dass da etwas nicht stimmte — dass da nicht nur der Gott drin war, sondern etwas Schlimmeres, etwas ... Schlimmeres.« Einen Moment lang schien sie es noch einmal zu durchleben: Merolannas Gesicht war angstverzerrt, aber ihr Blick ging in die Ferne, Utta und ihr eigenes Schlafzimmer sah sie gar nicht. »Und all die Kinder ... da waren Kinder auf der Straße! Kleine Kinder, ich glaube, sie wussten gar nicht, was da passierte, wie kleine Kinder eben sind. Sie ... fanden es einfach nur aufregend. Und die Seile ächzten, und die Räder knarrten, und dieser riesige schwarze Wagen rollte an ... Die Kerniospriester waren überall auf dem Wagen, saßen oben drauf, hingen an den Seiten, aber keiner von ihnen sah die Kinder! Ich war die Einzige, die sie sah!« Ihre Augen röteten sich plötzlich und füllten sich mit Tränen. »Ich wollte es ihnen sagen ...! Ich wollte ihnen sagen: ›Nein, nicht, da sind Kinder im Weg‹, aber niemand hat mich gehört!«
    Utta nahm jetzt auch Merolannas andere Hand und wärmte die Hände der Herzogin zwischen ihren eigenen, während die alte Frau leise weinte. »Ist ja gut, ist ja gut. Es war nur ein Traum.«
    »Aber es w-war keiner ...!«, sagte Merolanna. »Das ist es ja! Es war zu real, zu ... es war nicht nur ein Traum.«
    »Wie meint Ihr das, meine Liebe?« Utta wollte wieder ins Bett. In wenigen Stunden schon würde die Kämpferei wieder losgehen, und sie würde einen weiteren Tag lang darauf warten, dass eine Kanonenkugel ihr Eckchen des Palasts zertrümmerte. Sie wusste nicht mal mehr genau, wer eigentlich gegen wen kämpfte, und dieser Tage war kaum jemand zu finden, der mehr wusste als sie. »Ihr solltet Euch jetzt wirklich wieder hinlegen und schlafen ...«
    »Es war kein Traum, Utta. Es war eine Vision — so eine, wie sie die Orakel haben. Ich weiß es. Die Kinder sind in Gefahr.
Alle
Kinder. Die Götter wollen, dass ich sie rette.«
    Utta konnte jetzt nur noch versuchen, sich zu beherrschen. Eine kranke alte Frau bei Laune zu halten, vielleicht auch ihre unbezahlte Gesellschafterin zu sein, war eine Sache; mitten in der Nacht an ihrem Bett zu sitzen und zuzuhören, wie sie sich mit der heiligen Zoria verglich, eine ganz andere. »Das klingt wirklich schrecklich, liebe Merolanna. Wir werden ganz bestimmt morgen früh darüber reden. Aber jetzt braucht Ihr dringend Euren Schlaf ...«
    Nur die Götter mochten wissen, ob die Herzoginwitwe in dieser Nacht noch irgendwelchen Schlaf bekam. Als Schwester Utta im Morgengrauen davon erwachte, dass das Kanonenfeuer und das laute Rufen wieder einsetzten, musste sie feststellen, dass irgendwann, während sie geschlafen hatte, Merolanna aufgestanden, in ihre Kleider geschlüpft und aus dem Palast verschwunden war.

    Barrick schien es, als schlüge er hundert Schlachten gleichzeitig, längst vergangene und höchst gegenwärtige Schlachten, alle zu einem schwindelerregenden Wirrwarr verschmolzen. Welle um Welle von Xixiern flutete von beiden Seiten auf ihn und die Qar ein, als ob ein Strom von Soldaten über die Ufer getreten wäre.
    Er fand die Königin bei einer kurzen Ruhepause, was zeigte, wie lange sie schon kämpften. Er hatte die Qar immer nur als Wesen mit unerschöpflichen Kräften erlebt, obwohl er durch die Feuerblumen-stimmen wusste, dass sie sehr wohl ermüden konnten. Beschützt wurde Saqri von Hammerfuß' riesigem Sohn, dessen rötliche, höckrige Haut aussah, als bestünde sie aus Ziegelschutt. Als der Ettin Barrick nahen hörte, fuhr er herum und schlug ihm mit einer ausholenden Bewegung seiner steinharten Hand fast den Kopf vom Hals.
    »Ruhig, Schaufelschwinger«, erklärte Saqri. »Es ist das Menschenkind.«
    »Wieso

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