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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Fuß? Ein geflügeltes Reittier war das Kennzeichen des echten Dachrinnenkundschafters.
    Doch Mockel im Griff zu haben, war nicht nur eine Frage der Ehre, es war eine Frage des Überlebens — vor allem jetzt. Je tiefer er hinabkam, desto mehr setzte ihm die faulige Luft zu, so wie damals, als er mit Chert hier gewesen war. Es fiel ihm bereits schwer, sich auf den Flug zu konzentrieren, und jedes Mal, wenn sein Reittier in einem kalten Abwind jäh absackte oder sich so steil in die Kurve legte, dass er binnen eines Herzschlags kopfüber hing, fühlte Giebelgaup, wie ihm die Kontrolle über sein Reittier und sich selbst entglitt.
    Du hast's versprochen,
sagte er sich immer wieder.
Hast's Chert dem Funderling versprochen und deiner Königin. Also sei jetzt gefälligst der Mann, zu dem dich dein Vater erzogen hat!
Doch es hatte ihn schon über eine Stunde gekostet, sich nur durch Funderlingsstadt und die dunklen Gänge hinterm Seidentor zu manövrieren, wie Chert es ihm einst gezeigt hatte, und seither war noch mehr Zeit vergangen. Es war Arbeit, wach zu bleiben, Arbeit, auf Mockels samtigem Rücken das Gleichgewicht zu halten, und Giebelgaup war schon von Tagen ständigen Reitens und Fliegens ermüdet gewesen, als ihn der Befehl der Königin erreicht hatte. Je weiter die Flattermaus in die benebelnden Tiefen vordrang, desto schwerer fiel es ihm, die Augen offen zu halten.
    Ein neuer Geruch drang ihm in die Nase, fern, aber deutlich, und mit dem Geruch kam ein allmählich anschwellendes Geräusch, wie das Meerestosen, das in der Königlichen Spindelmuschel eingefangen war. Das Geräusch wurde immer noch lauter, obwohl die Luft immer dicker wurde, bis ihn die Meldungen seiner verwirrten Sinne zu dem Schluss brachten, dass er und sein Reittier irgendwie Oben und Unten verwechselt haben mussten: Ein solches Tosen konnte doch nur vom großen Ozean selbst kommen! Aber wie war das möglich? Hatte er sich wirklich so gründlich verflogen?
    Nein,
befand er gleich darauf,
so riecht kein ehrlicher Ozean.
Dieser schwere, Übelkeit erregende Geruch war ihm schon einmal begegnet, wenn auch nicht der Lärm.
Das ist kein Meer, das ist Cherts stinkender, silberner See im Herzen der Erde.
    Aber wo kamen der Geruch und der Lärm her? Er war noch weit weg vom Tempel der Metamorphosebrüder und erst recht von den fernen Tiefen, in die ihn Chert geschickt hatte — und die Zeit, die ihm blieb, um dorthin zu gelangen, schwand zweifellos dahin.
    Er zögerte nur kurz, ehe er die Zügel anzog und die Flattermaus durch die Verlagerung seines Gewichts in eine enge Kurve zwang. Giebelgaup und die Flattermaus segelten dahin, immer weiter weg vom einzigen Weg, den er kannte. Nach einer langen, komplizierten Serie enger Passagen, darunter ein Spalt, der so eng war, dass er absitzen und die widerstrebende Mockel zu Fuß hindurchführen musste, roch er den seltsamen Salz-und-Metall-Geruch stärker denn je. Auch der Hall war jetzt anders: Das Tosen kam von unten, klang, als stiege es einen weiten Schacht herauf.
    Aber wenn wir immer noch so weit vom Meer weg sind, warum tost es dann so laut?
    Er trat in die Steigbügel; die Flattermaus senkte den Kopf und schoss abwärts, schraubte sich so schnell tiefer und tiefer, dass Giebelgaup einen schmerzhaften Druck auf den Ohren spürte. Eine gefühlte Ewigkeit sausten sie den weiten, senkrechten Kamin hinab, bis sie plötzlich aus dem Dunkel in eine gewaltige Höhlenkammer fielen, wo mattglimmende Steine in Giebelgaups lichtentwöhnten Augen funkelten wie die Sterne selbst. Kurz verlor sogar Mockel die Orientierung: Die Flattermaus prallte gegen eine Wand von kalter Luft und kippte in den Sturzflug ab. Erst als sie auf das Gewoge brüllender Gestalten zustürzten — der Quell dessen, wurde ihm klar, was seine benebelten Sinne für das Tosen des Meeres gehalten hatten —, zog er die Flattermaus wieder in den Horizontalflug.
    Giebelgaup flog einmal um die riesige Kaverne herum, dann ein zweites und drittes Mal, und versuchte, aus dem schlau zu werden, was er da sah. Auf einer Insel inmitten des silbrigen Sees wimmelten Männer durcheinander wie Ameisen. Ein Teil von ihnen schien die Insel gegen ein buntes Sortiment von Wesen zu verteidigen, von denen etliche wie Funderlinge aussahen, jedenfalls von der Größe her. Sie mussten die sein, die er suchte, befand Giebelgaup, aber er konnte ja nicht einfach mitten in einer erbitterten Schlacht landen, wenn ihm sein Leben lieb war.
    Er kreiste, bis er ein Grüppchen

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