Das Herz
bemühte sich zu lächeln. »Ich verspreche Euch, guter M'Ardall, wir haben all unsere Feinde im Blick. Aber wir wollen uns keine Probleme einhandeln, solange wir nicht in der Lage sind, sie zu unseren Gunsten zu wenden.«
Er verbeugte sich. »Ich vertraue auf Eure Weisheit, Hoheit.«
Der Thronsaal lag in Trümmern, deshalb bestand das Zentrum der Macht einstweilen — bis der Palast selbst wieder in benutzbarem Zustand war — in einem Zelt mitten im vorderen Palastgarten, ausgestattet mit vier aus der Speisehalle stammenden Bänken. Auf Drängen des Prinzen von Syan war Briony als Einzige in einem Sessel plaziert worden, einerseits, um ihre besondere Stellung in dem improvisierten Thronsaal hervorzuheben, zum anderen aber auch, um ihr das traurige Los zu erleichtern, wieder Kleid und Korsett tragen zu müssen. Es war ihr ein Graus, aber sie würde dieses Opfer bringen, um ihrem Volk zu demonstrieren, dass alles wieder so war wie früher — auch das, was sie immer schon gehasst hatte.
Wenn mein Kopf sich doch nur nicht wie ein Amboss anfühlen würde,
dachte sie.
Und ihre Stimmen nicht wie Hämmer, die darauf einschlagen ...
Als sie in die Gesichter der Versammelten blickte, von denen ihr viele fast schon familiär-vertraut waren, versetzte es ihr einen Stich: Obwohl ein paar Mitglieder ihrer Familie noch lebten, war da niemand aus dem Hause Eddon. Anissa hatte sich mit dem kleinen Alessandros in ihr altes Reich im Frühlingsturm zurückgezogen. Großtante Merolanna war krank und blieb in ihren Gemächern. Brionys Vater lag aufgebahrt im einzig intakten Saal des Palastes, umgeben von Kerzen. Briony hatte etliche Male an seinem Katafalk geweint. Und ihr Bruder ...
Ach, Barrick, wo bist du?
»Prinzessin? Ich bitte um Verzeihung, soll ich ein andermal wiederkommen?«
Sie öffnete die Augen und sah den Hierarchen Sisel um einen geduldigen Gesichtsausdruck ringen. Hendon Tollys Herrschaft hatte immerhin den Effekt gehabt, dass der Hierarch und andere Amtsträger wesentlich vorsichtiger geworden waren und sich sehr bemühten, nicht den Zorn ihres Souveräns auf sich zu ziehen.
Das ist wohl das Einzige, wofür ich dir Dank schulde, toter Mann.
»Nein, Eminenz, nein«, sagte sie laut. »Es ist meine Schuld, nicht Eure. Bitte, wiederholt Eure Frage.«
»Es geht nur darum, dass wir die Beisetzung Eures Vaters nicht mehr lange verschieben können und es einiges zu entscheiden gilt. Die Eddon-Kapelle liegt in Trümmern, und der große Tempel in der Vorburg ist ebenfalls schwer beschädigt ...«
»Dann werden wir die Zeremonie unter freiem Himmel abhalten, Eminenz. Ich glaube, das wäre ihm ohnehin lieber.«
»Ich werde es veranlassen, Prinzessin«, sagte Eneas und kam damit möglichen Einwänden von Sisels Seite zuvor. »Wenn Ihr gestattet natürlich.«
Sie nickte. »Das ist sehr freundlich von Euch, Prinz Eneas.« Aber seine Hilfsbereitschaft belastete sie auch. Sie durfte sich nicht zu sehr auf ihn stützen: Sie war ihm immer noch eine Antwort schuldig. »Also, was liegt sonst noch an? Ich bin ziemlich zerstreut und im Moment wohl leider nicht auf der Höhe meiner Urteilskraft. Nynor? Schön, dass Ihr wieder hier seid. Was wolltet Ihr sagen?«
Der alte Mann hatte sein Bestes getan, sich zu erheben, sich dann aber auf Brionys Wink hin dankbar wieder hingesetzt. »Wie könnte ich fernbleiben, wenn meine Herrin mich braucht? Und Euer Vater war einer meiner teuersten Freunde, ein Juwel unter den Fürsten, ein Vorbild für die gewöhnlichen Menschen ...«
Briony versuchte ihre Ungeduld zu verbergen. Begriffen die Leute denn nicht, dass jetzt für solche Förmlichkeiten und wohlgesetzten Worte keine Zeit war? Es gab zu tun. Die Markenlande und vor allem Südmark selbst waren ein Trümmerhaufen. In den Ruinen wie auch in den Höhlen und Gängen unter der Burg lagen noch immer Leichen, die allmählich zu stinken begannen. Die Lebenden brauchten Nahrung, und Tolly hatte die Schatzkammern geleert. Dass er alles ausgegeben haben konnte, bezweifelte Briony — wahrscheinlicher war, dass er Gold und Juwelen auf seinen Familiensitz in Gronefeld verfrachtet hatte, sodass sie sich jetzt zu allem anderen auch noch damit auseinandersetzen musste, ob sie Krieg gegen ihre Verwandten führen wollte, um ihren eigenen Staatsschatz wiederzuerlangen.
Nynor führte immer noch aus, inwiefern die Finanzen — und überhaupt die gesamte laufende Verwaltung des Königreiches — gegenwärtig in so katastrophalem Zustand waren wie seit den
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