Das Herz
Zeiten des Großen Todes nicht mehr. »... Und wer wird Zeugnis gegen die Übeltäter ablegen?«, klagte er, einen knotigen Zeigefinger schwenkend. »Es ist praktisch nicht feststellbar, welche Leute Tolly unterstützt haben und welche der Krone treu geblieben sind ...«
Briony bemühte sich, ein Seufzen als Veränderung ihrer Sitzhaltung zu kaschieren. Warum war sie immer den ganzen Tag müde? »Das ist jetzt nicht das Wichtigste, Graf«, erklärte sie Nynor. »Die Männer und Frauen von Südmark wussten es doch nicht besser, als zum Thron zu stehen und zu demjenigen, der darauf saß — wie sollten sie auch?« Darüber hatte sie auf dem Rückweg von Syan viel nachgedacht — während all der langen Tagesritte durch das Land, das einst das geordnete Königreich ihres Vaters gewesen war, inzwischen aber wie aufgegebenes Ackerland zu verwildern begonnen hatte. »Es ist nicht an uns, sie dafür zu bestrafen, dass sie sich auf Tollys Seite geschlagen haben, an uns ist es vielmehr, ihnen den Weg in die Zukunft zu weisen. Es sei denn, sie hätten Tollys Regime als Rückendeckung benutzt, um Verbrechen und Grausamkeiten zu begehen! Dann werde ich so hart sein wie Stahl.«
Ein Raunen ging durch die Versammlung im großen Zelt. Viele der Hofadligen fragten sich ängstlich, wie ihr eigenes Verhalten in den letzten beiden Jahren wohl nach diesem Maßstab beurteilt würde. Gut, dachte sie.
Ich werde gerecht sein und gnädiger, als es manch anderer wäre, aber ich will nicht, dass die Frevler glauben, sie würden ungeschoren davonkommen.
Doch es erdrückte sie, an die ganze Arbeit zu denken, die auf sie zukam. Und das alles ohne ihren Vater, ohne viele der alten Ratgeber und, schmerzlicher noch, ohne ihren Bruder ...
»Wo ist Avin Brone?«, fragte sie mitten in Nynors Abhandlung über die Kornspeicher hinein. »Warum ist er nicht hier?«
Nynors faltiger Hals und seine zerfurchten Wangen wurden rot. »Graf Brone hat gesagt ... er sagte, er werde kommen, sobald Ihr ihn ruft, Prinzessin Briony. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.«
»Aber er fühlt sich nicht verpflichtet, in diesen Notstandszeiten hier anwesend zu sein?«
Nynor räusperte sich. »Er ... sagte, da Ihr seine Hilfe offenbar weder bräuchtet noch wünschtet, werde er warten. Er sagte, er sei mit den Göttern und dem Thron im Reinen und werde sich Euren Wünschen fügen.«
Sie starrte den alten Höfling an und fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn er wüsste, was sie wusste. »Dann will ich ihn sehen. Morgen oder übermorgen.« Sie lächelte auf eine Art, die etliche Höflinge zusammenzucken ließ, obwohl sie den Grund so wenig kannten wie Nynor. »Wann es ihm genehm ist, sagt ihm das.« Sie wandte sich an Eneas. »Und natürlich sind da immer noch mindestens hundert Tolly-Anhänger, die sich in Funderlingsstadt verkrochen haben wie Ratten unter den Fußbodenbrettern. Hauptmann Vansen und Euer Graf Helkis werden dort wohl einige Tage beschäftigt sein.«
Eneas nickte. »Solange die Verräter nur keine Unterstützung durch die dort lebenden Kallikan erhalten.«
»Funderlinge«, sagte sie etwas schärfer als beabsichtigt. »Sie heißen Funderlinge und sind so loyal wie andere auch.«
»Natürlich, Prinzessin, Funderlinge.« Eneas bemühte sich zu lächeln.
»Verzeiht«, sagte sie hastig. »Ich habe bestialische Kopfschmerzen. Ich wollte Euch nicht ...«
»Vergeben und vergessen, Prinzessin.« Er wollte noch mehr sagen, aber Briony war dadurch abgelenkt, dass eine höchst ungewöhnliche Gestalt im Zelteingang erschienen war und dort von nervösen Soldaten aufgehalten wurde. »Ich glaube, wir erhalten Gesandtenbesuch«, sagte sie. »Wachen, diese Person ist hier willkommen.«
Alle Blicke richteten sich jetzt auf die grauhäutige Frau. Manche der Versammelten kannten die Qar nur als Kreaturen, die versucht hatten, sie zu töten, und starrten die Besucherin mit unverhohlener Feindseligkeit an. Einige wichen sogar vor der hochgewachsenen, schlanken Gestalt zurück. Andere wie etwa Sisel, der vor Beginn der Belagerung die Burg verlassen und die schlimmste Zeit auf seinem Familienbesitz ausgesessen hatte, musterten sie mit mehr Interesse und weniger Furcht. Aber niemand, dachte Briony, am wenigsten sie selbst, konnte die Besucherin ohne gemischte Gefühle betrachten.
»Ich bin Aesi'uah, Ratgeberin von Barrick Eddon, dem Herrn der Winde und Gedanken.« Die Haut der Zwielichtlerin hatte die Farbe der Brust einer Taube, ihr Körper, als sie sich verneigte, die
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