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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Bruder von Angesicht zu Angesicht sprechen können.

    Kettelsmit saß im gleichgültigen Schatten einer sterbenden Eibe im vorderen Palastgarten und sah Prinzessin Briony mit ihrem Gefolge von Wachen vorbeigehen. Eine Gruppe von Arbeitern entdeckte sie ebenfalls und brach in rauhe Hochrufe aus. Kettelsmit hoffte, dass die Prinzessin ihn nicht bemerkt hatte. Nur Elan M'Corys Beteuerungen, dass Kettelsmit sich Tolly noch widersetzt habe, als manch anderer längst zum Mörder des kleinen Alessandros geworden wäre, hatten den Dichter davor bewahrt, endgültig im Verlies zu landen — oder, wahrscheinlicher noch, auf dem Schafott.
    Aber stimmte das denn, fragte er sich — was hätte er getan, wenn es anders gelaufen wäre? Hätte er sein eigenes Leben geopfert, oder hätte er getan, was ihm Tolly befahl?
    Matty Kettelsmit hatte soeben den letzten Wein aus seinem Krug getrunken und konnte über nichts anderes nachdenken als über sein Bedauern, dass er sich nicht mehr hatte leisten können. Die Preise waren enorm, und die besten Sachen gingen alle an die syanesischen Soldaten — auch so schon hatte Kettelsmit Kupferstücke aus dem Schmuckkästchen seiner Mutter stehlen müssen, um sich betrinken zu können, damit der Schmerz in seiner Brust, den jeder Atemzug bedeutete, für eine Weile nachließ. Trotzdem musste er wohl dankbar sein, dass er überhaupt noch lebte. Ohne das Zoriengebetbuch in seiner Brusttasche würde er seinen Wein jetzt im Himmel trinken — oder zumindest nicht in Südmarksburg.
    »Wer hätte gedacht, dass ein Buch einem Mann das Leben retten kann?«, hatte der syanesische Feldscher beim Verbinden seiner Wunde gestaunt. Kettelsmit hatte da in Ketten gelegen und sich deshalb nicht so recht als Glückpilz gefühlt. Jetzt war er zwar frei, aber immer noch nicht sonderlich freudig gestimmt.
    Und da ging die Prinzessin, dachte er, keine hundert Schritt von ihm, aber es hätten ebenso gut hundert Meilen sein können. Er konnte ihr nur nachschauen, wie sie mit ihren Soldaten in Richtung Rabentor ging — nur hinstarren und darüber sinnieren, wie sich das Leben des königlichen Hofdichters Matthias Kettelsmit in einen solchen Scherbenhaufen hatte verwandeln können.
    Elan M'Cory liebte ihn nicht. Das hatte sie unmissverständlich klargestellt. Sie hatte ihm dafür gedankt, dass er sie am Sterben gehindert und vor Hendon Tolly versteckt hatte, aber gleichzeitig deutlich gemacht, dass Dankbarkeit noch keine Liebe war.
    »Herzog Gailon braucht mich«, hatte sie gesagt und auf das abscheuliche Wesen gezeigt, das sie die letzten drei Tage pausenlos gepflegt hatte. »Er war beinahe tot — hielt sich schon dafür! Wie könnte ich ihn da jetzt im Stich lassen?«
    Auch wenn er dem Mann die zufälligen Privilegien seiner Geburt nicht so verübelt hätte, wäre es schwer zu verdauen gewesen, dass Elan eine derart entstellte Kreatur seiner vergleichsweise makellosen Person vorzog. Gailon Tollys Gesicht bestand nur aus offenen Wunden und Beulen von Dreck und Schlimmerem unter der Haut, sodass er aussah wie ein Pestkranker. Und dennoch hatte ihm Elan erklärt, sie wolle weiter nichts, als den Rest ihres Lebens darauf zu verwenden, Gailon wieder gesundzupflegen. Was hätte deutlicher sein können? Kettelsmit war für sie nicht mehr von Interesse.
    Liebe,
dachte er.
Gegenstand so vieler schöner Verse, und doch stinkt sie wie Dung.
    Er stemmte sich hoch und schleppte sich über die Wiese, die jetzt kaum mehr war als Dreck und Schutt mit ein paar verdorrten Grasbüscheln dazwischen.
    Eine Landkarte meines Herzens,
dachte Kettelsmit.
    Hätte ich es getan? Hätte ich das Kind getötet, um mich zu retten — nein, um Elan zu retten?
Das war im Nachhinein schwer zu sagen — er konnte sich kaum an irgendetwas anderes erinnern als an seine Verwirrung und Angst. Er stand auf der Mauer und starrte über die äußere Befestigung auf das endlose Anbranden des Meers. Der hohe Sommerturm übergoss ihn mit kühlem Schatten. Was in jener Nacht in seinem Kopf vorgegangen war, schien so weit weg und unzugänglich, als läge es in ferner Vergangenheit. Wie wollte je jemand mit Bestimmtheit sagen können, was dieser oder jener Held der Geschichte gesagt, gedacht oder gefühlt hatte? Kettelsmit hatte sich im Zentrum bedeutender Geschehnisse befunden — wenn er auch zugeben musste, dass seine Rolle eher klein gewesen war — und erinnerte sich praktisch an nichts außer an Hendon Tollys wahnsinniges Gesicht, so unheimlich wie eine

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