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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Geister, die in ihren eigenen schrecklichen Träumen gefangen waren, sogar etwas, das wie die Ruinen alter Tempel aussah, riesige Steintrümmer, so alt wie die Sterne. Einmal glitt etwas Großes über ihn hinweg, teilweise verdeckt von vielarmigen hohen Schatten, die Bäume hätten sein können. Er blickte empor und glaubte hoch über sich, halb hinter silbernen Wolken, ein Schiff zu sehen, mit einer Mannschaft aus Gerippen und nur einem Passagier, einer vollmondbleichen Frau, die auf einem hohen Thron an Deck saß, aber er konnte es nur ganz kurz studieren, ehe es wieder mit dem düsteren Himmel verschwamm.
    Er lief immer weiter, bis ihn die Müdigkeit zu überwältigen drohte. Die Stimmen im Schatten wurden lauter, versprachen jetzt mehr, verlangten aber auch mehr, als witterten sie seine zunehmende Schwäche.
    Ihr seid für mich gar nicht da,
erklärte er und zeigte ihnen die Gebärde für
Weiße Wände —
das Innere, das das Äußere schluckt. Sie fielen zurück, kleinlaut, aber wütend.
    Wir finden dich wieder,
drohten sie, und er wusste, es war die Wahrheit: Die Wesen, die an diesen Orten hausten, waren wie vergessene Gefangene, die nichts zu tun hatten, außer auf Flucht zu sinnen.
Wir werden dich finden, wenn du für solche Abwehr zu müde bist. Was dann, Menschenkind?
    Er war jetzt schon viel weiter gereist, als er mit Saqri je gekommen war, doch obwohl er nicht genau wusste, was er suchte, war er sich sicher, dass er es noch nicht gefunden hatte.
    Du hast dich zu weit über das Licht hinausgewagt,
höhnten die Schatten.
Wir werden uns nicht nur von dir nähren, wenn du schließlich fällst — wir werden aus dir eine Tür machen, um uns von allem nähren zu können, was lebt. Wir werden uns in der Nacht verteilen, im Schrei der Eule wohnen, uns in der jähen Reglosigkeit eines Säuglings verbergen. Wir werden in unserer ganzen unfassbaren Zahl aus diesem Ort hervorstürzen, so wie Fledermäuse aus ihren Nisthöhlen strömen, wenn das Dunkel die Dämmerung verschluckt.
    Eins jedenfalls, was die Schatten sagten, stimmte: Er hatte nicht mehr die Kraft umzukehren. Wenn dieses Hasardspiel nicht aufginge, würde jedes schreckliche Wesen, das sich im Dunkel jenseits von Schlaf und Leben versteckte, über ihn herfallen, und das wäre das Ende; es war niemand mehr da, der ihn retten könnte.
    Wie er so durch die äußeren Traumlande stolperte, immer noch langsamer und gefolgt von einer wachsenden Meute hungriger Schatten, sah er endlich etwas, das ihm wieder Hoffnung machte: Ein blasser, heidekrautfarbener Schein in der Ferne (wenn denn ein Wort wie »Ferne« an diesem Ort anwendbar war) gab der Traumlandschaft Gewicht und Festigkeit; wo das Licht hinfiel, hatte sie Substanz. Vor ihm erhob sich jetzt ein grasbewachsener Hügel, voll mit hageren Wesen, jedes mit einem Geweih, das die Spanne der Arme eines Mannes hatte.
    Barrick ging auf den blass beleuchteten Hügel zu. Als er näher kam, sahen ihn die Geschöpfe der Schattenherde an, und wenn auch in manchen der dunklen Augen etwas aufglomm, nahmen ihn die meisten Hirsche kaum zur Kenntnis. Nur einer — der größte oder vielleicht auch nur der nächststehende — betrachtete Barrick, als ob er ihn kennen würde. Eine Wolke von lavendelfarbenem Licht hing über der Stirn des Tiers wie ein unermesslich ferner Stern.
    Menschenkind. Du bist weit von dem weg, was du kennst. Ist dein Atem so schnell schon stehengeblieben?
    Er kniete vor dem mächtigen Tier nieder.
Ynnir — Herr. Es tut mir leid, dass ich Euch belästigen muss ...
    Belästigen? Darüber bin ich hinaus, Kind. Bald werde ich auch über das hier hinaus sein.
    Für einen Moment vertrieb das Mysterium des Ganzen alle anderen Gedanken aus seinem Kopf.
Wohin werdet Ihr gehen, Herr? Was kommt als Nächstes?
    Es ist nicht bekannt, bis man es erfährt,
sagte Ynnir.
Und selbst die, die es wissen, können es nicht sagen. Warum bist du hier, Menschenkind? Du bist weit über das hinausgegangen, was du gefahrlos durchmessen kannst.
    Ich weiß. Aber es ist schrecklich wichtig.
Er erzählte dem gebieterischen Tier von seiner Angst und seiner Hoffnung. Als er fertig war, blieb der Hirsch zunächst stumm.
    Wenn ich das tue, werde ich nicht hierbleiben können,
erklärte er schließlich.
Ich werde meine letzte Kraft geben und gezwungen sein weiterzugehen, was auch immer auf der anderen Seite wartet — vielleicht das Vergessen. Und vielleicht wird es trotzdem nicht genügen ...
    Ich kann Euch nur bitten, Herr — um Eurer

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