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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ankam, war alles leer bis auf ein Feld von schiefstehenden Steinen.
    Ein paar Dutzend Mal zwang er sich, sich nicht umzudrehen. Die Feuerblumenstimmen waren jetzt fast still, aber er war sich sicher, dass er es auch ohne sie merken würde, wenn Qinnitan zurückbliebe. Hatten sie sich nicht immer wieder im Traum gefunden? Hatte er sie nicht auch hier gefunden, an der Grenze zum unentrinnbaren Reich des Todes?
    Dann aber blieb sie schließlich zurück — er fühlte ihre Wärme schwächer werden. Er blieb ebenfalls stehen und musste seine ganze Kraft aufbieten, um weiter geradeaus zu schauen.
    »Wir sind fast da«, erklärte er ihr. »Nur noch ein Stückchen. Hab keine Angst?« Doch es war nicht der Mut, der sie verlassen hatte, wurde ihm plötzlich klar, es waren die Kräfte.
    Sie befanden sich in einer tiefdunklen Schlucht zwischen hohen Felswänden; jetzt ging er langsam weiter und tastete sich die eine Schluchtwand entlang, bis er etwas fand, das sich wie ein Felsspalt anfühlte.
    »Komm«, rief er ihr zu. »Komm mit hier hinein. Da kannst du dich ausruhen und bist sicher vor ... jagenden Wesen.«
    Er tastete sich weiter in eine Felsnische, die kaum seine Stehhöhe und nur wenig mehr als seine Schulterbreite hatte und auch nicht sehr tief war, aber er hörte Qinnitan hinter sich, und ihm wurde wieder leichter ums Herz. Er legte sich auf den kalten Boden und öffnete die Arme, damit sie sich an ihn schmiegen konnte wie ein krankes Kind. Er konnte sie jetzt riechen, ein Duft, den er noch nie gerochen hatte, der ihm aber vollkommen vertraut erschien. Er hörte sie sogar an seinem Ohr atmen, unruhig zuerst, dann aber langsamer und gleichmäßiger, als der Schlaf (oder was auch immer an diesem namenlosen Ort als Schlaf gelten mochte) über sie kam.
    Bald fühlte auch Barrick, wie er davondriftete, und fragte sich noch, ob er in dieser Welt wieder erwachen würde — oder überhaupt irgendwo.
    Zunächst begriff er nicht, was los war. Er war tief in einem Traum gewesen, an den er sich nicht erinnern konnte, aber jetzt lag er wach im Dunkeln. Etwas umschlang ihn. Er tastete, fand ihr Gesicht und ließ seine Finger über ihre Wange zu ihrem Mund wandern.
    »Barrick?«, fragte sie zu seiner Verblüffung.
    »Qinnitan! Ja, ich bin's. Hörst du mich wirklich?«
    Sie antwortete nicht gleich. »Ja. Aber du klingst weit weg. Warum klingst du so weit weg, wenn ich dich doch hier neben mir fühle? Wo sind wir?«
    Er wusste es nicht genau — nicht einmal die Feuerblumenstimmen konnten es ihm sagen. Außerdem wollte er sie nicht ängstigen: Wenn er sie jetzt verlor, dann war es für immer. »Auf dem Weg nach Hause.«
    Sie berührte sein Gesicht. »Kannst du mich sehen? Ich sehe nichts.«
    Barrick wollte nichts riskieren — er ließ die Augen fest zu, selbst im Stockdunklen. »Nein, ich kann dich nicht sehen, aber das liegt nur daran, dass es hier dunkel ist. Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«
    »Ich erinnere mich an dich.« Sie drängte sich eng an ihn. Sie war größer, als er gedacht hatte: Ihr Kopf ruhte direkt unter seinem Kinn, ihre Beine waren um seine geschlungen, und ihr Körper presste sich an seinen, Brust an Brust und Bauch an Bauch. Er hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlte, jemanden in den Armen zu halten, in den Armen gehalten zu werden. »Und ich erinnere mich an das Feuer«, sagte sie. »Etwas hat gebrannt. Etwas Großes.«
    Barrick erinnerte sich sehr genau an jene schrecklichen letzten Stunden in den Tiefen unter der Burg, mochte aber nicht darüber reden. Wer wusste denn, ob der Gott der Lügen tot war? Wenn Zosim nun auch durch diese dunklen Gefilde streifte? »Denk nicht daran«, sagte er. »Denk dran, dass wir hier hinausgelangen werden. Denk dran, dass du mit mir kommen wirst.«
    »Aber ich bin so müde.« Sie sagte es nicht hilfesuchend, sondern als Feststellung. »Ich kann dich kaum richtig umarmen.«
    »Ach, das machst du eigentlich ziemlich gut.« Plötzlich perlte Freude in ihm empor. »Du hältst mich ganz fest.«
    »Weil ich dich nicht im Dunkeln verlieren will. Ist dir klar, wie lange ich darauf gewartet habe, dich zu umarmen ... dich zu berühren ...?« Sie zuckte leicht zusammen. »Tut mir leid. Du musst mich ja schrecklich finden. Welche Sorte Mädchen sagt denn so etwas?«
    »Die richtige Sorte.« Er hatte jetzt Angst, etwas zu sagen, Angst, irgendetwas könnte diesen Moment zerstören. »Du hast mich vorhin nicht erkannt«, sagte er. »Als ich dich im Fluss gefunden habe. Erinnerst du

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