Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
dich?«
    »Ich erinnere mich an gar nichts, ich weiß nur, dass ich hier aufgewacht bin«, sagte sie. »Willst du mich küssen?«
    »Küssen ...?«
    »Das hat noch nie ein Mann getan. Ich glaube nicht, dass man dafür etwas sehen muss, du?«
    Sein Herz fühlte sich an, als würde es ihm in der Brust zerspringen. »Nein. Nein, ich glaube nicht, dass wir dafür etwas sehen müssen.«
    Barrick staunte, wie genau er alles fühlen konnte: die Wärme ihrer Haut, die Süße ihres Atems, die feinen Härchen an ihrer Schläfe, das weiche Kitzeln ihrer Wimpern ... sogar die feuchten Spuren ihrer Tränen.
    »Warum weinst du?«
    »Weil ich nicht geglaubt habe, dass das hier je geschehen würde — ich habe darum gebetet, aber ich habe nicht geglaubt, dass die Götter es zulassen würden. Und ich will nicht, dass es aufhört«, sagte sie. »Aber es wird aufhören, oder? Wir beide werden nie zusammen sein.«
    »Sag das nicht!« Doch in diesem Moment konnte er nicht lügen. »Ich weiß nicht, Qinnitan, ich weiß es wirklich nicht. Verlang nicht, dass ich dir mehr sage.«
    »Tue ich nicht.« Aber ihre Wangen waren immer noch feucht. Sie presste sich so eng an ihn, dass es sich anfühlte, als versuchte sie sich
in ihn hinein
zu pressen, als könnten ihre getrennten Körper irgendwie
ein
Fleisch werden, ihre beiden Herzen als
eins
schlagen. »Küss mich noch mal, Barrick. Wenn wir nicht zusammenbleiben können, wollen wir uns eine Erinnerung schaffen, die uns weder Tod noch Feuer nehmen kann. Bleib hier bei mir. Liebe mich.«
    Er küsste sie wieder, wie sie ihn gebeten hatte. Das Dunkel mochte sie vielleicht vor anderen Augen verbergen, aber ihnen offenbarte es viel mehr als jedes Licht, und die Stunden verflogen wie Minuten.
    Als Barrick wieder erwachte, war er allein. Erschrocken stürzte er aus der Felsnische, die ihnen das Glück, endlich zusammen zu sein, zum luxuriösesten Gemach hatte werden lassen. Im letzten Moment dachte er daran, die Augen zuzumachen und sicheres Unheil abzuwenden. »Qinnitan!«, rief er. »Wo bist du? Komm zurück!«
    Schließlich hörte er ihre Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich bin hier, Barrick. Aber du musst gehen.«
    »Was soll das heißen? Du musst mit mir kommen?«
    »Ich kann nicht.« Es klang traurig, aber entschieden. »Ich habe nicht die Kraft, wieder hinüberzugelangen. Ich weiß jetzt, wo ich bin, Barrick, und ich weiß, was möglich ist. Du hast mich so nah ans Land der Lebenden gebracht, wie du konntest. Jetzt musst du allein weitergehen.«
    »Nein! Ich werde dich nie verlassen! Ich bleibe hier bei dir!«
    »Das wirst du nicht tun«, sagte sie ruhig. »Wir hätten ein wenig Zeit, aber dann müssten wir beide den Fluss durchqueren, und wer weiß, was danach geschähe?«
    »Aber ich überlasse dich nicht dem Tod. Das tue ich nicht.«
    »Du bist zu ängstlich. Ich werde hier bleiben können, nah am Land der Lebenden — das hat unsere Liebe gesichert. Was wir gemeinsam erschaffen haben, ist stark, mein lieber Barrick, wie ein mächtiger Stein, der tief im Boden verankert ist. Daran kann ich mich zumindest noch eine Weile festhalten.« Sie berührte ihn — er fühlte ihre Finger auf seinem Gesicht, wärmer jetzt, als ob wieder etwas Leben in sie zurückgekehrt wäre. »Geh jetzt zurück. Ich spüre, dass du etwas geplant hattest — vielleicht wird es uns ja immer noch retten.«
    Er bemühte sich, nicht verbittert zu klingen. »Es wird andere retten. Du wirst darunter leiden, genau wie ich.«
    Sie lachte, ein verblüffendes Geräusch an diesem Ort. »Dann will ich leiden, Barrick, und dankbar dafür sein. Was glaubst du, was für ein Leben ich zuvor gehabt habe? Ich will gern das Hundertfache an Leiden, wenn ich dafür deine Liebe habe.«
    Er brauchte nicht zu überlegen. »Die hast du. Immer.«
    »Dann geh, und vertraue darauf.«
    Noch nie war er sich so unsicher gewesen. Aber es hatte auch noch nie etwas gegeben, wofür er so rückhaltlos zu kämpfen bereit gewesen war. Vertrauen hingegen — das war schwerer als kämpfen. »Warte auf mich, Qinnitan, meine süße Stimme, meine Geliebte. Versprich mir, ganz gleich, wie lange es sich anfühlt, wie unmöglich es scheint, dass ich doch noch komme ... versprich mir, dass du auf mich warten wirst.«
    Und damit wandte er sich ab und eilte dem Land der Wachen und Lebenden entgegen. Das grausame Schicksal erlaubte ihm nicht einmal einen letzten Blick zurück.
    Barrick kniete neben Saqri. Er ertrug es nicht, Qinnitans Gesicht gleich neben ihrem zu

Weitere Kostenlose Bücher