Das Herz
holen, doch in dem Moment war auf der Treppe die Stimme der Königin zu hören. »Aber warum? Warum kommt sie in der Nacht auf diese Weise? Das macht mir Angst!« Dann erschien sie selbst in Begleitung eines halben Dutzends Frauen, von denen eine ihren kleinen Sohn Alessandros trug.
Olin Alessandros,
rief sich Briony in Erinnerung.
Mein Bruder. Auch er ein Kind meines Vaters.
Anissa im Nachtgewand vor sich zu sehen, weckte in Briony schreckliche Erinnerungen — Erinnerungen an Feuer und lebende Schatten, an jenen letzten Winterfestabend, da ihre ganze Welt aus den Fugen geraten war —, doch sie gab sich alle Mühe, in ruhigem Ton zu sprechen. »Entschuldige, dass ich dich um diese Zeit belästige, Anissa, aber mir raubte eine Frage den Schlaf, die nur du beantworten kannst.«
Demonstrativ erstaunt sah Anissa Nynor an, aber der alte Ratgeber war in diesem Fall nur als Beobachter zugegen. Er beließ es bei einem respektvollen Nicken. »Was ist?«, sagte sie. »Was willst du von mir, Briony, dass du mich so erschreckst?«
»Ich will wissen, wie deine Dienerin Selia damals zu dir gekommen ist. Was wirst du so blass, Stiefmutter? Ich habe kürzlich etwas über den Autarchen von Xis erfahren, deshalb muss ich das jetzt von dir wissen. Wie ist deine Dienerin zu dir gekommen?«
»Ich ... ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht mehr?« Anissa sah sich um, als könnte eine ihrer Dienerinnen ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen, aber keine sah sie auch nur an. Sie kamen guten Teils selbst aus der devonisischen Heimat der Königin und wussten, dass sie als Ausländerinnen hier am Hof nur durch Anissas Stellung geschützt waren, schienen aber dennoch seltsam unwillig, ihr beizuspringen. »Sie ... wurde mir geschickt«, sagte Anissa schließlich. »Ich habe den Oberhofmeister meiner Mutter gebeten, mir ein gutes Mädchen zu schicken, als Leibdienerin für mich. Das ist alles. Ich kannte sie kaum! Ich habe nicht geahnt, dass sie eine Hexe war! Aber das habe ich dir alles schon erzählt, Briony — warum plagst du mich damit jetzt, wo dein Vater tot ist und ich es so schwer habe?«
»Ja, warum?« Briony schüttelte den Kopf. »Das ist eine berechtigte Frage. Nynor, habt Ihr den Brief?«
Der alte Mann sah Anissa mit einem Gesichtsausdruck an, den Briony bei ihm noch nie gesehen hatte. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass er etwas gefragt worden war. »Oh. Ah, ja. Ja, hier ist er.« Mit zittriger Hand zog er den Brief aus der Manteltasche. »Ich werfe nie etwas weg, und zum Glück hat der Dummkopf, der mein Amt innehatte, es auch nicht getan.« Er hielt den Brief Briony hin, aber die schüttelte den Kopf.
»Lest bitte vor.«
»Augenblick ...« Er justierte das scherenförmige Gestell seiner Augengläser, bis er mit beiden Augen hindurchsehen konnte. »Ich muss bloß eben ... ah. Hier. Aus einem Brief, den mir Königin Anissa im Heptamene letzten Jahres schrieb, wenige Monate, nachdem der König von Hesper von Jellon gefangen genommen und dann gegen Lösegeld Drakava in Hierosol überlassen wurde.«
»... Und auf König Olins ausdrücklichen Wunsch hin lasse ich das edle Fräulein Selia ei'Dicte, meine liebe Kindheitsfreundin, kommen, damit sie mir in seiner Abwesenheit Gesellschaft leistet. Sie steht mir sehr nah und ist von hoher Geburt, also sorgt bitte dafür, dass sie im Hafen nicht warten muss und keiner rohen Behandlung unterzogen wird wie eine gewöhnliche Dienstmagd.«
Briony sah sie scharf an. »Was war sie denn nun — eine liebe Kindheitsfreundin oder eine Dienerin, die du kaum kanntest?«
Anissa wich ein paar Schritte in Richtung Treppe zurück. Ein paar von den Wachen reagierten nervös — Briony fühlte es; obwohl die Eingangshalle geräumig und zugig war, schien die Luft plötzlich dicht und knisternd wie vor einem Gewitter. »Wie soll ich es noch wissen? Gut, vielleicht ich kannte sie! Aber das heißt nicht, dass ich etwas zu tun hatte mit dem, was sie hat gemacht. Ich würde doch nie ...«
»Inzwischen weiß ich, dass der Stein, den deine Dienerin benutzt hat, vom Autarchen gestammt haben muss — es war einer von diesen magischen Kulikos-Steinen, wie er sie in den letzten Stunden der Kämpfe unter der Burg auch anderen gegeben hat, um sie in schreckliche, dämonische Wesen zu verwandeln. Hauptmann Vansen hat gesehen, wie einer den Kulikos in der Mund steckte.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Nein, nicht ›einer‹, sondern ›eine‹. Die Dämonen müssen ursprünglich
Weitere Kostenlose Bücher