Das Herz
nicht mehr der geliebte, unmögliche, bedauernswerte Gefährte ihrer Kindheit, sondern jemand viel Fremderes und Stärkeres.
»Und jetzt, da du weggehst, werde ich diesen Barrick nie kennenlernen«, sprach sie ihre Gedanken aus.
Er zuckte die Achseln. »Der alte Barrick hätte ohne dich nie überlebt. Außerdem haben wir im Vorratskeller Blutsbrüderschaft geschlossen, weißt du noch? Das kann nicht mal der neue Barrick vergessen.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Dass ich das noch mal höre, hätte ich nicht gedacht.«
»Vielleicht finden wir ja auch Mittel und Wege des Gedankenaustauschs, die du dir jetzt nicht vorstellen kannst«, sagte er mit ernster Miene. »Wir werden beide Herrscher sein. Geschwistermonarchen sollten in Verbindung bleiben.« Er tippte sich an den Kopf. »Auch darüber werde ich nachdenken.«
Wieder drohten ihre Augen überzulaufen. »Trotzdem wird es im günstigsten Fall Jahre dauern, bis wir uns wiedersehen! In dieser ganzen Zeit hat mich nur der Gedanke aufrechterhalten, dass wir, wenn wir überleben, am Ende wieder eine Familie sein würden.«
»Wir
sind
eine Familie, Briony, wenn auch nur noch eine kleine. Je mehr ich mich verändere, desto klarer sehe ich das an mir, was sich nie verändern wird. Ich war ein Eddon, ehe ich irgendetwas anderes war.« Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn, zog sie dann an sich. In ihrer Überraschung sträubte sich Briony kurz, dann umschlang sie ihn fest. Eine ganze Weile standen sie einfach nur so da, zwei Menschen auf einem grünen Hügel an der Küstenstraße bei aufgehendem Mond.
»O Rotschopf, du wirst mir so fehlen!«
»Ich weiß, Briony.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich meine, ›ich weiß, Strohkopf ...‹, du mir auch. Aber das heißt, dass wir nie ganz getrennt sein werden.«
Beim Aufbruch fiel es Vansen schwer, klar zu denken. Auch nur dem Funderling Chert zu helfen, seine trauernde Frau wieder in die Kutsche zu bugsieren, fühlte sich wie Verrat an.
»Aber wie kann er denn einfach allein losgehen?«, fragte Opalia immer wieder. »Unser Junge — was wird er jetzt tun? Wer wird ihm etwas zu essen geben?«
»Er wird schon zurechtkommen«, sagte Chert immer wieder, aber der kleine Mann sah selbst ziemlich schockiert aus. Vansen fühlte mit ihm. Er wusste, wie es war, nicht trauern zu können, weil einen andere brauchten. »Flint ist immer zurechtgekommen, lange bevor da irgendein sogenannter Gott im Spiel war.«
»Glaubt Ihr ihm denn nicht?«, fragte Vansen.
Chert sah düster drein. »Nein, das Schlimme ist, dass ich ihm glaube ... das macht es ja so schrecklich. Selbst wenn wir den Jungen wiedersehen, wird er nicht mehr unser Flint sein, nicht wirklich.« Er deutete mit dem Kinn auf die Kutsche, in der Opalia auf ihn wartete, und senkte die Stimme. »Das ist es ja, was sie so traurig macht.«
»Aber Euer Junge war immer schon jemand anders, als alle dachten«, sagte Vansen langsam. »Keiner von uns hat ihn wirklich gekannt.«
»Und Opalia weiß das — sie weiß es besser als wir.« Chert streckte eine kleine, schwielige Hand aus, damit Vansen ihm die Trittstufen der Kutsche hinaufhelfen konnte. »Macht Euch nicht zu viele Sorgen um uns, Hauptmann Vansen. Wir Funderlinge sind ein dickhäutiges Volk. Wir überleben es schon.«
»Wenn Ihr ein bisschen Zeit für Euch gehabt habt, bringt doch alles, was Ihr braucht, in die Burg, dann finden wir Euch dort ein Plätzchen im königlichen Palast.« Vansen lebte schon so lange ohne richtiges Zuhause, dass er gar keine rechte Vorstellung mehr hatte, was gewöhnliche Leute so mit sich herumtrugen. »Waffen, wenn Ihr welche habt. Erinnerungsstücke.«
Chert lächelte trotz der leisen, kummervollen Geräusche, die aus der Kutsche kamen. »Ja, natürlich, meine großartige Waffensammlung. Für die werde ich, ehrlich gesagt, nicht viel Platz brauchen. Aber Opalia hat wahrscheinlich ein paar Töpfe und Pfannen.« Er nickte nachdenklich. »Und dass wir aus dem Haus meines Bruders herauskommen, macht mich ganz gewiss nicht traurig. Er wird viel mehr zu Hause sein, jetzt, da Zinnober die Zunftvorsteher dazu gebracht hat, Knoll wegen seiner gefährlichen Wichtigtuerei von der Magister-Tafel zu streichen, und schuld bin in seinen Augen garantiert ich.« Cherts Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Was mich mächtig freut, Hauptmann — und wie es mich freut!«
Als Merolannas verwirrter Kutscher endlich hatte losfahren dürfen und die Kutsche nur noch ein dunkler Fleck
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