Das Herz
Männer auf der Mauer haben letzte Nacht nichts gesehen, aber sie hörten ... Geräusche ...«, begann Hud.
»Was für Geräusche?«, fuhr ihn Tolly an. Mit seiner ruhigen Sachlichkeit war es schon wieder vorbei. »Singen? Pfeifen? Den verdammten Hormos-Tanz? Und warum hat niemand etwas unternommen? Bei allen Göttern, habe ich Karnickel als Burgwachen?«
Während der Reichshüter weiterschrie, ließ der verängstigte Kettelsmit seinen Blick durch die Kapelle schweifen. Er war noch nie zuvor hier drinnen gewesen; unter Briony Eddons Regentschaft war die Kapelle Riten und Gebeten der königlichen Familie vorbehalten gewesen. Hendon Tolly schien sie nur aus Gründen der Ungestörtheit zu benutzen.
Die Ratgeber genossen das Zusammensein mit dem Reichshüter in der Kapelle sichtlich nicht allzu sehr, und dasselbe galt offenkundig auch umgekehrt. Als Tolly die Ratgeber endlich weggeschickt hatte, ließ er sich auf die vorderste Bank — die mit dem Familienwappen der Eddons — fallen und saß stirnrunzelnd und in sich selbst versunken da. Beim Anblick des Wolfs und der Sterne, die in die Banklehne eingeschnitzt waren, überkam Kettelsmit hilflose Traurigkeit. Er versuchte, nicht über die Veränderungen nachzudenken, die in nur einem halben Jahr über sein Leben und sein Land gekommen waren, aber es war schwer zu vergessen, dass für ihn alles schon einmal besser gestanden hatte — viel besser.
Was auch immer Hendon Tolly beschäftigte, war nicht mit seinen Ratgebern verschwunden: Jetzt marschierte der Reichshüter rastlos auf und ab. »Offensichtlich bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, sagte er schließlich, als ob er ein Gespräch nach einer kurzen Pause wieder aufnähme und nicht geraume Zeit Stille geherrscht hätte. »Die Qar sind geflüchtet, weil sie wissen, dass der Autarch kommt, also haben wir lediglich einen mörderischen Feind gegen einen noch stärkeren und schlimmeren eingetauscht — wir haben höchstens noch ein paar Nächte. Verflucht sei dieser flennende Narr Okros?« Ein junger Diener wartete schon eine ganze Weile am Eingang der Kapelle. Endlich sah ihn Tolly. »Was? Vermaledeite Götter, was ist denn nun schon wieder?«
Der Diener verneigte sich tief. Es war offensichtlich, dass er panische Angst vor dem Protektor hatte, was Kettelsmit verstehen konnte. »Die ... die Königin? Königin Anissa b... bittet um Euren Besuch, Herr.«
»Bei den heiligen Händen der Drei, habe ich denn nie meine Ruhe? Sag ihr, ich komme, wenn ich kann?«
Während der Diener davoneilte, zog Tolly eines seiner zahlreichen Messer heraus und begann an den Sternen des Eddon-Wappens auf der Banklehne herumzuschnitzen. »Idioten und Schlampen, sonst gibt es nichts auf dieser Burg — nicht einen Menschen, der imstande ist, auf einen Stein zu pissen, ohne dass ich ihn persönlich dirigiere. Und jetzt muss ich mir auch noch das Gejammer dieser devonisischen Ziege anhören.« Er sah Kettelsmit finster an, als ob es dessen Idee wäre. »Steh auf, verdammt noch mal«, sagte er, »oder ich ziehe dir die Haut vom Rücken ab. Komm mit.«
Kettelsmit war natürlich gar nicht erst so dumm gewesen, sich hinzusetzen, aber er war auch nicht so dumm, darauf hinzuweisen.
Die Wachen, die sie aus dem großen Thronsaal und durch die Hauptburg zum Palast geleiteten, hielten sich dicht bei ihnen, und Matthias Kettelsmit war froh darüber. Die Scharen von Flüchtlingen, die überall in der Burganlage in Behelfshütten und Zelten hausten, hatten verdrossene Gesichter; die wenigsten Blicke, die sich auf Hendon Tolly richteten, waren auch nur entfernt bewundernd, viele hingegen unverhohlen feindselig.
»Undankbares Herdenvieh«, sagte Tolly so laut, dass es Kettelsmits Unbehagen noch steigerte. »Wenn Menschenfleisch nicht von den Göttern untersagt wäre, hätten sie vielleicht noch einen Nutzen, so aber strapazieren sie nur meine Schatzkammer und meine Geduld.«
Anissa und ihr Hausstand hatten Gemächer bezogen, die einen großen Teil des obersten Palaststockwerks einnahmen. Als die Dienerin Tolly und ihn einließ, staunte Kettelsmit, wie viel Platz die Königin zur Verfügung hatte, während sich unten in der Burganlage und sogar in anderen Teilen des Palasts die Menschen so dicht drängten wie Hühner auf der Stange.
Anissa drehte sich bei ihrem Eintreten um und schien zunächst nur den Protektor zu sehen. »Hendon!«, rief sie aus und lief mit offenen Armen auf ihn zu. »Wie ich Euch habe vermisst! Warum kommt Ihr nicht mehr zu mir ...?«
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