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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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mehr beunruhigte Kettelsmit, dass Tolly diese kleine Prozession offensichtlich an den Ort zurückführte, wo Okros gestorben war: in die Familiengruft der Eddons nahe der Erivor-Kapelle.
    Kettelsmit mochte keine Friedhöfe; er hatte als Kind im Hafenviertel in der Nähe von einem gewohnt, was ihm viele Alpträume beschert hatte. Beim Anblick der wie kleine Häuser aussehenden Steingrüfte hatte er immer über deren unsichtbare Bewohner nachdenken müssen, und die Geschichten seines Vaters über die Knochen, die einst durch schwere Regenfälle aus dem Friedhof auf die Hauptstraße des Hafenviertels hinausgeschwemmt worden waren, hatten es auch nicht besser gemacht. Trotzdem blieb ihm keine andere Wahl, als mitzugehen.
    Kettelsmit fragte sich unwillkürlich, warum sie die Gruft vom Friedhof aus durch den Zeremonialeingang betraten statt über die enge Treppe, die sich vom Inneren der Erivor-Kapelle dort hinabwand, damit die königliche Familie Blumen niederlegen oder anderweitig ihrer verstorbenen Ahnen gedenken konnte.
    »Gebt mir das Licht.« Hendon Tolly streckte die Hand aus und nahm einem der Wachsoldaten die brennende Fackel ab. »Dichter, du trägst den Spiegel.«
    Ein Soldat drückte ihm das schwere Bündel in die Arme — etwas zu bereitwillig, fand Kettelsmit. Die Treppe in die Gruft hinab war schmal und erstaunlich steil; er musste sich schon konzentrieren, um nur das Gleichgewicht zu halten. Unten angekommen, vermied er es so lange wie irgend möglich, auf die Stelle zu schauen, wo Okros gelegen hatte, aber genau dorthin strebte Tolly. Zu Kettelsmits Erleichterung war die Leiche des Arztes nicht mehr da.
    Tolly steckte die Fackel in einen Halter, nahm dann Kettelsmit das Bündel ab und begann es auszuwickeln.
    Beim letzten Mal war Matty Kettelsmit viel zu verängstigt gewesen, um sich die Gruft genauer anzusehen. Die Steinmetzarbeiten waren schlicht, aber ansprechend, die Wände ein Wabenwerk aus Nischen, die jeweils einen Steinsarkophag enthielten. Außer der Treppe, die in die Familienkapelle der Eddons hinaufführte, ging von dem Raum, in dem sie standen, noch mindestens eine Tür ab, vermutlich zu anderen Katakomben.
    Mattys Vater hatte ihm einmal erzählt, dass die königliche Gruft des Weithallpalastes in Tessis so berühmt für ihre Größe und Pracht sei, dass sie bei den Leuten dort »der untere Palast« heiße. Sie sei sogar ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare, da es dort so viele ruhige Ecken und Winkel gebe. Kettelsmit konnte sich die Eddongruft so wenig als heimliche Liebeslaube vorstellen wie eine Metzgerei. Die Atmosphäre hier ging auf die düstere, connorische Seite der Herrscherfamilie zurück; in dieser dunklen Steinkammer war der Tod nicht der Beginn eines glorreichen jenseitigen Lebens, sondern schlicht das Ende des diesseitigen.
    Tolly hatte den Spiegel ausgepackt und stellte ihn so auf ein Grabmal, dass er an der Gruftwand lehnte. Es war ganz offensichtlich ein ungewöhnlicher Gegenstand. Zum einen hatte er in der Horizontalen eine leichte, aber unverkennbare Außenwölbung. Zum anderen war der Rahmen so oft und in so vielen dunklen Farbtönen übermalt worden, dass die darunter befindlichen Schnitzereien nicht mehr zu erkennen waren und der Rahmen wie etwas Gewachsenes statt wie etwas künstlich Geschaffenes wirkte. »Jetzt ist es Zeit, dass du deinen Part übernimmst, Dichter.«
    »Aber ... was ist mein Part?« Ob er wohl einfach wegrennen konnte? So schnell Hendon auch war, würde er doch einen Moment brauchen, um sein Schwert zu ziehen — wie viele Stufen könnte er, Matty, bis dahin wohl schaffen? Und würden die Wachen bereitstehen, ihn aufzuhalten? Was, wenn Tolly ihnen etwas zurief? Ein sehr ungemütliches Rumoren in seinen Gedärmen und eine scheußliche Enge um die Brust sagten ihm, dass er es nicht wagen würde. Vielleicht hatte Okros ja nur Pech gehabt. Vielleicht würde irgendetwas passieren, das die Aufmerksamkeit des Protektors auf sich zog und ihm, Kettelsmit, eine reelle Fluchtchance bot.
    Tolly trat einen Schritt auf ihn zu, und obwohl Kettelsmit größer war als der Reichshüter, hatte er das Gefühl, vom Grund eines Lochs in Hendons stechende Augen empor zu blicken. »Hör gut zu, du einfältiger Schwätzer. Ich muss wissen, ob du beim Beschwörungsritual den Platz dieses toten Narren Okros einnehmen kannst — Mittsommer ist schon in wenigen Tagen. Falls du den Weg zum Land der Götter nicht zu öffnen vermagst, muss ich jemanden finden, der es kann. Du

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