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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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bellendes Lachen kam so jäh und so heftig wie die Ohrfeige, die sich Kettelsmit vorhin eingefangen hatte. »Dir? Bei den Arschlöchern der stinkenden, furzenden Götter, Dichter, bist du irre? Du bist mit knapper Not des Lesens und Schreibens mächtig. Weißt du irgendwas über Phayallos? Über das
Buch des Ximander,
das du inzwischen in Händen gehalten und aus dem du vorgelesen hast? Natürlich nicht. Du bist wie so viele deiner Sorte, verliebt in das Winseln und Quengeln dieses Gregor und der übrigen Barden. Denkst, die Wahrheit läge in hübschen Worten und hübschen Geschichten. Du weißt
nichts.«
Er beugte sich zur Seite und spuckte auf den Fußboden — immerhin nicht auf Kettelsmit, wofür dieser dankbar war. »Aber du kannst schreiben, was ich dir sage. Du kannst mit ansehen, was ich dir zu sehen gestatte, und dann darüber schreiben, und selbst mit einem so stumpfen Verstand wie deinem als Führer werden in künftigen Jahrhunderten die, die es wert sind ... sie werden es verstehen. Sie werden meine Werke sehen und meine Worte hören, und diese wenigen werden mich verstehen. Das ist wahrhaftig alles, woran mir liegt. Wenn ich die Macht erlange, nach der ich strebe, gut und schön. Wenn ich nicht mehr erreiche, als die Pläne des Autarchen zu durchkreuzen, ist auch das gut, solange das Wichtige — was ich bin —
wer
ich bin — nicht aus dem Gedächtnis und Denken jener verschwindet, die mir gleichen, jener überaus, überaus wenigen, die mir gleichen und die zum größten Teil noch nicht einmal geboren sind.« Er hob den Becher wieder an den Mund und trank ihn aus. »Geh in deine Ecke, Dichter. Geh schlafen. Die Stunde deiner höchsten Berufung ist schon fast da. Dann erlebst du auf die eine oder auf die andere Art die Neugeburt der Welt. Dann siehst du ...
erstaunliche Dinge.«
Tolly schloss die Augen wieder, lehnte sich zurück und ließ den schweren Eisenbecher auf den Boden fallen, was klang wie das Schmieden eines Schwerts. »Dann erlebst du ... den glorreichen Moment, da die Götter ... mich endlich als das erkennen ... was ich bin.«
    Als klar war, dass Hendon Tolly nichts mehr sagen würde, kroch Kettelsmit in eine Ecke und machte es sich in einem Deckenhaufen auf dem Steinfußboden so bequem, wie es denn ging. Er wickelte sich fest in seinen Umhang, doch obwohl der Boden kalt war, zitterte er nicht deshalb, bis ihn der Schlaf endlich entführte.

    Noch nie war Utta so verwirrt gewesen. Während all der seltsamen Geschehnisse der letzten Monate hatte sie doch immer noch ein klares Gefühl dafür gehabt, was es als Nächstes zu tun galt, doch jetzt war ihr, als irrte sie im Nebel umher. Wo war die alte, vertraute Welt geblieben? Die Zwielichtler hatten Merolanna und sie gefangen gehalten und mit dem Tode bedroht — aber jetzt waren ebendiese Zwielichtler Verbündete, die sich unter Südmarksburg versteckten. Der Autarch von Xis, vor einem Jahr noch kaum mehr als ein schreckenerregender Name, hatte jetzt drüben am Festlandsufer sein Heerlager errichtet und versuchte, Südmarksburg fallreif zu schießen. Und der Vater des Kindes der Herzoginwitwe, von dem immer nur klar gewesen war, dass es die Zwielichtler geraubt hatten ... war Avin Brone. Wie konnte das alles sein?
    Trotz der späten Stunde waren die Wege und Grasflächen der Hauptburg überfüllt. Tausende Menschen waren beim Fall von Südmarkstadt herbeigeströmt, und während der Angriffe auf Südmarksburg, zuerst durch die Qar und jetzt durch die Xixier, hatten sich die Flüchtlinge immer weiter ins Innere der Burg zurückgezogen, sodass der königliche Palast jetzt wie eine Insel war, die aus einem Meer von verzweifelten, obdachlosen Menschen ragte. Die Hauptburg wirkte wie eine Art Jahrmarkt, nur dass die Gesichter in der Menge fast ausnahmslos wütend oder hoffnungslos oder beides zugleich waren. Viele starrten Utta unfreundlich an, und zum ersten Mal im Leben hatte sie das Gefühl, dass ihre Zorienschwesterntracht sie nicht als jemanden kennzeichnete, der vielleicht helfen konnte, sondern als jemanden, der an etwas schuld war.
    Sie glauben, dass die Götter sie im Stich gelassen haben,
wurde ihr bewusst.
Zoria, die Beschützerin der Armen und Geknechteten, hat ihre Gebete nicht erhört.
    Als sie an eine Stelle kam, wo das Gedränge besonders dicht war, stieß jemand sie so fest an, dass sie ins Stolpern kam. Ein paar umstehende Frauen reagierten mit missbilligendem Gemurmel auf die Unhöflichkeit, aber niemand kritisierte den Mann, der

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