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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sie begangen hatte, laut und direkt — er war ohnehin schon weg —, und im Weitergehen hatte Utta nicht wie sonst das Gefühl, sich unter Zoriens Kindern zu bewegen; ihr war vielmehr, als befände sie sich inmitten wilder Tiere, die womöglich über sie herfallen würden, wenn sie sich weit genug in ihre Mitte wagte. Ja sie fühlte sich plötzlich so alt und verängstigt, dass sie an den Rand der Menge bei der inneren Mauer auswich, aber hier war es auch nicht ungefährlicher. Entlang der Mauer schienen hauptsächlich Männer zu kampieren, was ihr seltsam vorkam, da doch jetzt jeder gesunde Mann im Kampf benötigt wurde. An ihren Feuern sitzend, drehten sie die Köpfe, um Utta zu mustern, als wäre sie eine zum Verkauf stehende Ware. Die Augen reflektierten den Feuerschein, zeigten aber keinerlei Regung.
    Utta eilte in die relative Sicherheit des Wachturms, der der Frontseite des Thronsaals gegenüberstand. Der Thronsaal diente jetzt hauptsächlich als Truppenquartier und hatte unter dem Beschuss des Autarchen den größten Teil seines Daches eingebüßt, aber er war von Laternen erhellt, und sein Anblick nahm ihr immerhin etwas von dem Gefühl, dass die ganze Welt hinter ihrem Rücken durch eine andere ersetzt worden war. Momentan schwiegen die xixischen Kanonen, also fragte Utta einen der Pikeniere, ob sie die Wachturmtreppe hinaufsteigen dürfe, um auf die Mauer der Hauptburg zu gelangen. Sie hatte ein unsägliches Verlangen nach Seeluft, Luft, in der nicht der Rauch Hunderter Lagerfeuer hing.
    Der Soldat beäugte sie etwas misstrauisch, nickte dann jedoch und sagte: »Aber passt auf da oben, Schwester. Da rennen Kinder herum wie wilde Geschöpfe. Haben zum Teil keine Eltern mehr. Sie stehlen Euch den Geldbeutel und stoßen Euch von der Mauer, wenn sie Euch zu weit vom Turm erwischen.«
    Utta zuckte zusammen: dass so etwas hier geschehen konnte, mitten in der Burg. »Ich gehe nicht weit. Ich möchte nur das Meer riechen.«
    Sie hielt Wort, ging nur ein paar Schritte die Brustwehr entlang und prüfte, dass sie das Feuer der Wachstube noch sehen konnte, ehe sie sich gegen die kalten Mauersteine lehnte und die salzige Seeluft einsog. Irgendwo in der Nähe schrie eine Möwe. Auch in der Vorburg brannten überall Feuer, aber nur die von Soldaten. Jenseits der Neuen Mauer war der Midlanfels größtenteils dunkel, obwohl Utta debattierende und streitende Stimmen und da und dort sogar ein Lied hörte und wusste, dass fast jeder Quadratzoll der inneren und äußeren Befestigungsanlage von Festlandsflüchtlingen besetzt war.
    So viele Menschen! So wenig Hoffnung. Utta kreuzte die Hände auf der Brust und betete.
    Sie schaute hinab und versuchte gerade auszuspähen, wo dort im Dunkeln das Tor nach Funderlingsstadt sein mochte, als sie plötzlich merkte, dass jemand neben ihr stand — jemand, der sich vollkommen lautlos angeschlichen hatte. Vor Schreck wäre sie fast umgekippt, aber die unbekannte Person rührte sich nicht.
    »Ihr könnt es auch fühlen, stimmt's?«, fragte die Person — eine junge Frau mit wirrem Blick. »Ihr fühlt, dass es bald passiert.«
    »Ich ... tut mir leid«, sagte Utta, »ich weiß nicht, was Ihr meint.« Vielleicht war das ja ein Trick — die junge Frau sollte sie ablenken, damit andere herankommen und sie ausrauben konnten. Wenn sie nicht so verängstigt gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich gelacht. Sie war eine Zorienschwester — was besaß sie schon Stehlenswertes? Eine Holzbrosche in der Form einer Mandel? Ein paar Gebetsperlen? Ihr Leben? Nichts davon war auch nur den Preis einer Mahlzeit wert.
    »Es kommt«, sagte das Mädchen. »Die große Stunde naht — ich fühle es. Aber ich kann ihn nicht erreichen?«
    Sie ist verrückt, das arme Ding, aber sie kann doch wohl nicht den Autarchen verehren?
Es gab, wie Utta festgestellt hatte, einige verwirrte Seelen, die durch die Ereignisse des letzten Jahres schon so verängstigt waren, dass sie im Autarchen eine Art Geißel des Himmels sahen, die der sündigen Welt ein Ende machen würde.
    »Ich bin nicht verrückt«, sagte das Mädchen, was Utta so erschreckte, dass sie wieder zurückwich. »Ich weiß es. Ich weiß, was unter der Burg vor sich geht. Ich kann es hören, riechen, spüren. Er kehrt zurück. Der Gott kommt zurück. Und der, den ich liebe, ist auch dort.« Sie wandte sich Utta zu, das schmale Gesicht jung im Schein der Fackel, die an der Wachstubentür brannte. Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen kaum etwas gegessen. »Ihr!

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