Das Herz
Ihr kennt meinen Liebsten. Das fühle ich. Ihr habt ihn getroffen und mit ihm geredet.«
Utta war schon im Begriff, sich zur Wachturmtür zurückzuziehen. »Seid gesegnet, Kind. Möge Zoria, die Barmherzige, Euch beschützen ...«
»Ich habe ihn Gil genannt, aber jetzt heißt er Kayyin.« Sie lachte auf. »Davor hieß er auch Kayyin, aber dann hat er sich eine Zeitlang einen anderen Namen zugelegt. Mein dummer, kluger Gil.«
Die kurzgeschorenen Haare in Uttas Nacken sträubten sich unter ihrer Haube. »Was ... was sagt Ihr, wie er heißt?«
»Kayyin vom Stamm der Wandelbaren. Fürstin Stachelschwein ist seine Mutter, aber er ist nicht so stachlig wie sie.« Sie kicherte, was ihr alles Bedrohliche nahm. »Aber ich kann nicht zu ihm. Ich fühle ihn in meinen Gedanken, aber er kann mich nicht fühlen.« Ihre Stimme wurde ernst und traurig. »Die Männer, die Soldaten, lassen mich nicht runter nach Funderlingsstadt. Und Kayyin ist da unten und wartet, dass der Gott wiedergeboren wird. Aber seine Gedanken sind voll von Sachen, die ich nicht verstehe — Sorgen wegen Eiern und Fieber und Fieber und Eiern ...!«
Utta schüttelte verwirrt den Kopf »Ihr wisst tatsächlich, dass die Qar dort unten sind? Oder habt Ihr das nur gehört?«
Das Mädchen lachte wieder, diesmal ungläubig. »Gehört? Ich hör's mit jedem Teil meines Körpers, weiß es mit jedem Gedanken! Ich kann Kayyins Herz durch den Stein schlagen fühlen.«
Utta schüttelte den Kopf Sie hatte in letzter Zeit Seltsameres gehört — und gesehen. »Wie heißt Ihr, Kind?«
»Willow.« Das Mädchen machte einen unbeholfenen kleinen Knicks und lachte wieder, aber jetzt lag darin keine Verzweiflung mehr: Sie klang ruhiger, zufriedener. »Aber so hat mich lang niemand mehr genannt.«
»Ein hübscher Name«, sagte Utta. »Kommt mit mir zum Zorientempel, Willow. Ihr seht aus, als könntet Ihr eine anständige Mahlzeit vertragen.«
13
Ein Blick in den Schlund
»... Da prügelte ihn der böse Schiffskapitän und hätte ihn wohl getötet, doch selbst die Matrosen des Schiffs hatten Mitleid mit dem Kind und flehten ihren Herrn an, das Leben des Waisenknaben zu schonen ...«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Das Seltsame war: Je länger Chert an der Karte für Hauptmann Vansen arbeitete und je exakter er sie zu zeichnen versuchte, desto unvertrauter erschien ihm alles.
Weil niemand außer dem Herrn des Heißen, Nassen Steins selbst die Welt je so gesehen hat,
befand er —
alles auf einmal, offen und nackt. Nur der große Gott konnte die Dinge so sehen, nur ein Gott würde die Dinge so sehen wollen.
Doch obwohl er zwischendurch daran zweifelte, dass er überhaupt etwas Brauchbares zustande bringen würde, geschweige denn schnell genug, um dazu beizutragen, dass sein Volk die Belagerung überlebte, fand sich Chert von der Aufgabe fasziniert. Seine Tafeln und Pergamente hatten den Tisch des Dormitoriumszimmers überwuchert, bis Opalia schließlich einen zweiten Tisch verlangt hatte, »damit gewisse Leute auch irgendwo essen können — falls sie dafür je lange genug Pause machen.« Wenn er vor den Dutzenden Karten saß, die ihn die Metamorphose-Brüder auf Magister Zinnobers Geheiß aus der Tempelbibliothek hatten ausleihen lassen, fühlte sich Chert, wenn auch vielleicht nicht wie ein Gott, so doch mehr als in seinem gesamten bisherigen Arbeitsleben wie ein richtiger Ingenieur.
Jemandes Darstellung der Welt zu betrachten, war eine Sache, selbst eine zu entwerfen, eine ganz andere. Nachdem er lange darum gerungen hatte, wie er alles in eine einzige Zeichnung bringen könnte, hatte er sich für eine Kombination entschlossen: Karten sämtlicher einzelnen Ebenen und eine größere Zeichnung, die zeigte, wie diese Ebenen zusammengehörten. Damit und mit etwas Vorstellungskraft müsste Ferras Vansen in der Lage sein, sich einigermaßen in der Welt der unterirdischen Gänge zurechtzufinden.
Opalia zog zwar öfter in Zweifel, dass ihr Mann noch ganz bei Trost war, sich auf eine solche Aufgabe einzulassen, verbrachte aber jeden Abend geraume Zeit damit, ihm bei der Arbeit zuzusehen, Fragen zu stellen und sich sogar gelegentlich einzumischen, obwohl sie verkündete, dass sie das alles nicht im Geringsten interessiere. Auch Flint kam herein, um Cherts Werk zu betrachten, es geradezu zu studieren, als wollte er es sich einprägen, aber wenn es in ihm irgendwelche Gedanken auslöste, behielt er sie für sich.
Flint war
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