Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
hineinzwängen konnte.
    Er sah nicht viel mehr als seinen eigenen Arm und das Leuchten des Korallenbrockens in seiner Hand, aber zwei Dinge erkannte er sofort: Dieser Kamin war breiter, als er gedacht hatte, vielleicht einen guten Seilwurf im Durchmesser, und dort drüben in der Wand des annähernd zylindrischen Schachts, einige Klafter entfernt, waren ein solider Felssims und dahinter eine schwarze Nische, so hoch, dass ein Mann von Cherts Größe aufrecht darin stehen konnte. Vielleicht ein Gang? Das wäre eine Möglichkeit, auf den Sims zu gelangen und den mächtigen Schacht genauer zu inspizieren.
    Da Flint dünner war als er, hielt er den Jungen so fest am Gürtel, dass ihm die Fingergelenke wehtaten, als er ihn hinausgebeugt den Sims betrachten ließ.
    »Meinst du, wir könnten da hinfinden, Junge?«, rief er.
    Flint antwortete erst, als er wieder sicher im Spalt stand. »Glaub schon«, sagte er nur. Sein seltsames Erwachsenenverhalten schien von ihm abgefallen.
    Tatsächlich brauchten Chert und der Junge, obwohl sie ihr Mittagessen im Gehen verzehrten, fast zwei Stunden, um die Stelle zu finden. Das lag einerseits daran, dass sie erst weit hinabgehen mussten, bevor sie den richtigen Weg hinauf fanden, aber es hatte, wie Chert beschämt einräumen musste, auch den Grund, dass er die Entfernung falsch geschätzt hatte und Flint mehrmals zum Umkehren zwang, weil er hätte schwören können, dass sie schon zu weit gegangen waren.
    Der Sims, den er gesehen hatte, war nicht ein paar Klafter entfernt gewesen, sondern ein paar hundert, und viel größer, als er gedacht hatte. Als sie ihn schließlich gefunden hatten, erkannte Chert zu seinem Erstaunen, dass es nicht einfach nur ein kleiner Vorsprung war, sondern ein regelrechter Balkon, ein Dutzend Funderlingsellen tief und drei bis vier Mal so breit, der wesentlich mehr Leuten Platz bot als nur Flint und ihm. Selbst das, was von dem weitgehend natürlichen Gang auf der anderen Seite aus nur ein Spalt gewesen war, war vom Kamin her gesehen breit genug, um einem Großwüchsigenfuhrwerk Durchlass zu bieten.
    Ein Schauer, halb Ehrfurcht, halb schlichte Furcht, überlief Chert.
Der Schlund,
dachte er.
Es ist der J'ezh'kral-Schlund selbst, und nur ich habe ihn entdeckt?
In den Funderlingsmythen war der Schlund — auch J'ezh'kral-Höhle oder -Schacht genannt — jenes Loch in der Erde, das ins sagenhafte Reich des Herrn des Heißen, Nassen Steins hinabführte, dorthin, wo die Funderlinge einst erschaffen worden waren. Aber was sonst sollte das hier sein, ein gewaltiger Kamin, der von der Oberfläche der Welt bis in die tiefsten Mysterien reichte? Und warum hatte ihn noch niemand kartiert? Wussten die Metamorphose-Brüder von seiner Existenz? Verheimlichten sie sie dem Rest ihres Volkes?
    Halt dich an dein Gerüst, eh du dir den Hals brichst, Blauquarz,
ermahnte er sich.
Fang gar nicht erst an, über solche Dinge nachzudenken. Da wirst du nur verrückt oder ängstigst dich selbst zu Tode. Zeichne es alles auf der Karte ein.
    »Sei so gut und bleib einen Moment still sitzen, Junge«, sagte er zu Flint. »Es dauert nicht lange.«
    Paradoxerweise war es das brave Verhalten des Jungen, das Chert bewusst machte, wie lange sie schon hier waren: Er hatte so viele Notizen und Skizzen zu dem Sims und dem riesigen Kamin gemacht, wie er nur konnte, und wollte gerade sein Handwerkszeug wegpacken, als ihm plötzlich aufging, dass er von Flint bestimmt schon eine Stunde lang keinen Mucks gehört hatte. Er drehte sich bestürzt um, sicher, dass der Junge wieder verschwunden war, aber Flint saß ein paar Schritte weiter ruhig da, den Blick in den riesigen Schacht gerichtet.
    »Bei den Alten der Erde, ich habe dir heute eine Menge abverlangt, Junge, und du hast alles getan, worum ich dich gebeten habe«, sagte Chert in einer jähen Anwandlung von Stolz. »Komm, wir gehen zurück, und ich schaue mal, ob ich irgendwo Brot und ein bisschen Honig auftreiben kann, den diese gierigen Mönche für sich behalten haben — du hast etwas Leckeres verdient.«
    Flint lächelte — ein seltenes Ereignis, aber Honig war derzeit in Funderlingsstadt schwer zu finden und seine Leib- und Magenspeise. Er sprang rasch auf und führte Chert zu einem breiteren Gang zurück, der sie wieder zur Großen Unterwasserstraße bringen würde. Doch als Chert in den breiteren Stollen hinaustrat, prallte er gegen Flint, der abrupt stehen geblieben war, und beide starrten den Fremden an, der vor ihnen aufgetaucht

Weitere Kostenlose Bücher