Das Hexen-Amulett (German Edition)
den Wohnortwechsel nicht erinnern. Für sie hatte es immer nur Werlatton Hall gegeben. Sie überflog weitere Briefe und suchte nach einem Hinweis auf die Ursache für den plötzlichen Reichtum ihres Vaters, fand aber keinen. In kürzester Zeit war er, wie es schien, von einem ärmlichen Händler zum Herrn über ein riesiges Anwesen aufgestiegen.
Ein Brief aus dem Jahr 1630 war von einer anderen Hand geschrieben und klärte Matthew Slythe über den Tod seines Schwiegervaters auf. Am Rand dieses Briefes hatte Slythe vermerkt, dass seine Schwiegermutter eine Woche später gestorben war. «Die Pest», so lautete die lakonische Erklärung.
Jemand klopfte an der Tür. Campion legte den Brief ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es klopfte wieder. «Wer ist da?»
«Ebenezer. Mach auf!»
«Nein. Lass mich allein.» Sie war unvollständig angezogen, trug ihr Haar offen und konnte ihn unmöglich hereinlassen.
«Was tust du?»
«Das weißt du doch. Ich räume auf.»
«Nein, das tust du nicht. Ich habe gelauscht.»
«Lass mich allein, Eb. Ich lese in der Bibel.»
Sie wartete, bis er sich entfernte, hörte, wie er grummelnd durch den Flur hinkte, und stand dann eilig auf, um weitere Kerzen anzuzünden. Sie glaubte, Ebenezer könne versuchen, durch das Fenster von außen einzusteigen oder durch den Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer zu spähen. Sie stellte sich zwischen Vorhang und Fenster und schaute in den dunklen Garten. Ein Käuzchen rief, Fledermäuse schwirrten über den Rasen, doch Ebenezer ließ sich nicht blicken. Sie wartete, lauschte und erinnerte sich an die vielen, vielen Nächte, in denen sie wach im kalten Kinderbett gelegen und die im Zorn erhobenen Stimmen ihrer Eltern gehört hatte. Ihr war schon als Kind bewusst gewesen, dass die Bosheit ihrer Eltern Auswirkungen auf sie hatte.
Die Briefe ergaben keinen Hinweis auf das Siegel. Die restlichen Papiere enthielten nur mehr mathematische Aufzeichnungen. Müde breitete sie die Blätter vor sich aus und fing an, darin zu lesen. Es waren offenbar diese Berechnungen, die ihren Vater nächtelang beschäftigt und veranlasst hatten, mit seinem Gott zu ringen. Neugierig geworden, schaute sie näher hin.
Ihr Vater hatte geglaubt, die Bibel berge im Wesentlichen zwei Botschaften, von denen die erste allen, die sie hören wollten, offenbar sei, die zweite jedoch verborgen und mit geheimen Zahlen verschlüsselt. Wie ein Alchimist, der Quecksilber in Gold zu verwandeln trachtete, hatte Matthew Slythe eifrig versucht, Gottes Geheimnisse aus der Heiligen Schrift zu enträtseln.
«Dank sei Gott dafür» stand zuoberst auf einer Seite geschrieben, und Campion sah, dass sich dieser Satz auf das Buch der Offenbarung bezog, in dem das Biest, der Antichrist, der Zahl 666 zugeordnet wurde. Was Matthew Slythe dankbar gestimmt hatte, war die schlichte Tatsache, dass sich diese Zahl nicht durch zwölf teilen ließ. Die Zwölf, so schien es, war eine gottgefällige Zahl, was auch darin zum Ausdruck kam, dass im vierzehnten Kapitel der Offenbarung von 144 000 Menschen die Rede war, die sich auf dem Berg Zion versammelt hatten. Durch zwölf geteilt («die Anzahl der Apostel sowie der Stämme Gottes»), ergab sich die Zahl 12 000. Aus irgendeinem Grund schien ihm dieses Ergebnis von besonderer Bedeutung gewesen zu sein, denn er hatte es zwölfmal unterstrichen und anschließend weitere Divisionen vorgenommen, mal mit dem Teiler drei – der Zahl der Dreifaltigkeit –, mal mit vier – «für die vier Ecken dieser Welt» – und schließlich mit sechs, der «Hälfte von zwölf».
Doch mit jeder Frage, die sich für ihn beantwortet hatte, schienen neue Probleme aufgetaucht zu sein. Im Buch Daniel weissagt der Prophet, dass nach 2990 Tagen, gerechnet «von der Zeit an, wenn das tägliche Opfer abgetan wird», das Ende der Welt erreicht sei. Matthew Slythe hatte sich den Kopf über diese Zahl zermartert, war aber nicht hinter das Geheimnis gekommen. In seiner Verzweiflung hatte er aus demselben Kapitel einen Vers zitiert, der seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte: «Denn es ist weggeschlossen und versiegelt bis auf die letzte Zeit.»
Versiegelt. Sie schüttelte den Kopf und lächelte. Dieses Wort schien ihrem Vater weniger bedeutet zu haben als das Wort «weggeschlossen», denn es war mit energischer Hand unterstrichen. Weggeschlossen. In ihrer Erinnerung regte sich etwas, das sie aber nicht benennen konnte. Sie sprach das Wort laut aus. «Weggeschlossen.
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