Das Hexen-Amulett (German Edition)
Fluchtabsicht durchschaut zu haben. Wieso hätte er sonst die Gefahren außerhalb von Werlatton erwähnen sollen?
Sie richtete den Kragen ihres Kleides. «Danke.»
«Dankt Eurem Herrn und Heiland, Miss. Er hilft aus aller Not.» Er bückte sich und streichelte eines der Kätzchen. «Ich könnte Euch viele Beispiele seiner Gnade nennen.»
«Auch Beispiele seiner Strafen, Mr Horsnell?»
Eine solche Frage hätte sie ihrem Vater nie zu stellen gewagt – und von ihm wäre auch nie eine solche Antwort zu hören gewesen, wie sie ihr nun der Stallknecht gab. Er zuckte mit den Schultern und sprach so nüchtern und gelassen, als unterhielte er sich mit ihr über Huföle oder Dungschaufeln. «Gott liebt uns, Miss. Das ist alles, was ich weiß. Was wir auch tun, er liebt uns. Betet, Miss, und Ihr werdet in Euren Gebeten Antwort finden.»
Sie wusste die Antwort längst und hatte sie als solche nur noch nicht erkannt. Was zu tun war, lag auf der Hand, nämlich das, woran der Fremde gescheitert war, so auch ihr Bruder und Samuel Scammell. Sie musste das Siegel finden und darauf hoffen, dass sich damit die Tür zur Freiheit öffnen ließ. Sie lächelte.
«Betet für mich, Mr Horsnell.»
Er erwiderte ihr Lächeln. «Das tue ich seit zwanzig Jahren, Miss Dorcas. Wieso sollte ich ausgerechnet jetzt damit aufhören?»
Sie würde das Siegel finden.
5
Noch am selben Abend machte sich Campion auf die Suche. Sie gab vor, im Arbeitszimmer ihres Vaters, in dem der Fremde herumgestöbert hatte, für Ordnung zu sorgen. Der Mann war gegangen, angeblich in der Absicht, Isaac Blood aufzusuchen, mit dessen Name der Brief unterschrieben war, der ihn nach Werlatton Hall geführt hatte. Ebenezer und Scammell waren schockiert über sein wildes Gebaren und entsprechend erleichtert, als er so rasch und mysteriös, wie er gekommen war, das Haus wieder verlassen hatte. Das Siegel schien nicht zu existieren.
Scammell war froh und glaubte, dass sich Campion von ihrer wochenlangen Schwermut erholt hatte. Er schloss die Tür zum Arbeitszimmer auf und bot ihr seine Hilfe an. Sie schüttelte den Kopf. «Habt Ihr auch den Schlüssel zu meinem Zimmer?»
Er gab ihr, worum sie ihn bat, und blickte über ihre Schulter hinweg auf das Chaos, das der Fremde in dem Zimmer hinterlassen hatte. «Da habt Ihr viel Arbeit, meine Liebe.»
«Das schaffe ich.» Sie nahm auch den Schlüssel zum Arbeitszimmer an sich, schloss die Tür und sperrte ab.
Fast im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie sich in ihrem ungestümen Eifer zu einem Fehler hatte hinreißen lassen. Dieser Raum war bereits mehr als einmal durchsucht worden, und es stand kaum zu erwarten, dass sie hier finden würde, was ihr Bruder und Scammell vermissten. Doch hier in diesem Zimmer überkam sie nun eine unwiderstehliche Neugier. Nie hätte sie es früher gewagt, sich allein Zutritt zu verschaffen. Ihr Vater hatte Stunde um Stunde in diesem Raum zugebracht, und während sie sich nun darin umschaute, rätselte sie, was er hier die ganze Zeit getan haben mochte. Sie fragte sich, ob die verstreut herumliegenden Papiere und Bücher einen Hinweis enthalten könnten, wenn schon nicht auf das mysteriöse Siegel, so doch zumindest auf das Mysterium ihres Vaters. Warum hatte ein Christenmensch zeitlebens so viel Groll in sich verspürt? Warum hatte er mit seinem Gott so heftig gezürnt, dem er doch angeblich in Liebe zugetan gewesen war? Auch das waren für sie Rätsel, die es zu lösen galt, wenn sie denn wirklich frei sein wollte.
Sie machte sich den ganzen Abend lang in diesem Zimmer zu schaffen und verließ es nur einmal, um heimlich in die Küche zu schleichen, wo sie zwei Äpfel und ein Stück Brot einsteckte und eine brennende Kerze mitnahm, um damit die großen Kerzen auf dem Schreibtisch ihres Vaters anzuzünden. Als sie zum Arbeitszimmer zurückkehrte, stand Scammell schweigend in der offenen Tür und schaute mit finsterem Blick auf das Durcheinander. Er lächelte matt, als er sie sah, und fragte: «Ihr räumt doch auf, oder?»
«Ja, wie versprochen.» Sie wartete darauf, dass er ging, was er schließlich auch tat. In jüngster Zeit empfand sie manchmal durchaus Mitleid mit ihm, denn es war unverkennbar, dass er, den hohe Erwartungen nach Werlatton Hall begleitet hatten, in diesem Hause große Not litt. Sie wusste, dass er sie nach wie vor begehrte, die schmachtenden Blicke, mit denen er sie betrachtete, waren unverkennbar. Sie wusste auch, dass er, wenn sie ihn heiratete, gefügig
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