Das Hexen-Amulett (German Edition)
sein würde und darauf bedacht, ihr zu gefallen. Doch ihren Körper gegen Gefügigkeit einzutauschen, schien ihr ein schlechter Handel zu sein.
Sie brachte die sechs großen Kerzen zum Brennen und sah Goodwife Baggerlie von außen durchs Fenster spähen. Sie klopfte an die Scheibe und wollte wissen, was sie, Dorcas, in dem Zimmer treibe. Doch Campion zog die schweren Vorhänge vor und entledigte sich so des Anblicks der griesgrämigen Haushälterin. Die Kerzen und die verhängten Fenster ließen es im Zimmer stickig und warm werden. Sie zog ihren Unterrock aus, nahm die Haube vom Kopf, aß, was sie sich aus der Küche mitgenommen hatte, und machte sich dann wieder an die Arbeit.
Auf einem Teil der Papiere standen ausschweifende Abhandlungen über Gott geschrieben. Matthew Slythe hatte den Geist Gottes auszuloten versucht, so wie sie nun versuchte, dem Geheimnis ihres Vaters auf den Grund zu kommen. Sie hockte, die langen Beine über Kreuz, am Boden und brütete über den dicht und mit pedantischer Hand beschriebenen Blättern, die zum Ausdruck brachten, wie sehr ihr Vater in Verzweiflung geraten war angesichts eines Gottes, von dem er glaubte, dass man ihm als Mensch nie wirklich gefallen könne. Campion las und wunderte sich über seine Furcht, über seine verzweifelten Versuche, seinen unerbittlichen Gott günstig zu stimmen. Von Gottes Liebe war nirgends die Rede, denn die gab es für Matthew Slythe nicht, für ihn existierte Gott nur als Gebieter.
Ein größerer Teil der Texte schien mathematischen Themen gewidmet zu sein. Diese schob sie beiseite, zumal sie sich mehr versprach von einem Stoß Briefe, den sie zwischen den Papieren entdeckte. Beim Lesen dieser Briefe kam sie sich vor wie jemand, der an der Tür lauscht. Die frühesten datierten auf das Jahr ihrer Geburt, doch es war kaum etwas über ihren Vater oder die Geschichte ihrer Eltern darin zu erfahren.
Die Briefe aus dem Jahr 1622 ließen sie aufmerken. Sie waren von den Eltern ihrer Mutter an Matthew und Martha Slythe adressiert und enthielten nicht nur fromme Ratschläge, sondern auch Ermahnungen an den Schwiegersohn, von dem sie verlangten, dass er härter arbeiten müsse, um Gottes Gunst zu erwerben und zu gedeihen. In einem Brief wurde ihm die Bitte um ein Darlehen verweigert mit der Begründung, dass er schon genug Geld erhalten habe und nun endlich einmal sein Gewissen erforschen müsse, um herauszufinden, ob Gott ihn wegen irgendeiner begangenen Sünde strafe. Zu dieser Zeit, im Jahr ihrer Geburt, hatten ihre Eltern in Dorchester gelebt, wo ihr Vater, wie sie wusste, als Wollhändler gearbeitet hatte – offenbar nicht besonders erfolgreich, wie aus den Briefen hervorging.
Sie sichtete die Briefe der ersten drei Jahre, übersprang die Stellen, in denen religiöser Rat erteilt wurde, und las, was John Prescott, ihr Großvater mütterlicherseits, aus London geschrieben hatte. In einem Brief gratulierte er Matthew und Martha zur Geburt eines Sohnes, dem «freudigen Ereignis, das uns alle glücklich macht». Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie selbst an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt wurde, allenfalls in der allgemeinen Formulierung «die Kinder».
In den Briefen von 1625 tauchte ein für sie bislang unbekannter Name auf: Cony. Immer wieder war die Rede von ihm. «Ein braver Mann», «ein tüchtiger Mann», «wir glauben, dass Cony euch geschrieben hat», «habt ihr Mr Cony schon geantwortet? Er verdient es, dass ihr ihm antwortet.» Jedoch fehlte in all diesen Briefen jeglicher Hinweis darauf, in welcher Beziehung Mr Cony zu Matthew Slythe oder John Prescott gestanden hatte. In einem Brief, der offenbar nach einem Besuch von Matthew Slythe in London geschrieben worden war, hieß es: «Unsere Geschäfte nehmen einen gedeihlichen Verlauf.» Anscheinend waren diese Geschäfte so vertraulich gewesen, dass man sich gescheut hatte, Einzelheiten darüber auf dem Postweg auszutauschen.
Nach 1626 wurde Matthew Slythe kein einziges Mal mehr dafür getadelt, dass er seine finanziellen Angelegenheiten schlecht verwaltete. Im Gegenteil, nun war von Slythes Reichtümern die Rede, von «Gottes überaus großzügiger Gnade, die er dir zukommen lässt und für die wir vielfach Dank sagen». In einem der Briefe freut sich der Großvater auf «unseren Besuch in Werlatton». Ihr Vater schien also irgendwann zwischen 1625 und 1626 von Dorchester nach Werlatton umgezogen zu sein. Sie selbst war damals allenfalls drei Jahre alt gewesen und konnte sich an
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