Das Hexen-Amulett (German Edition)
eigene Truhe war gemeint. Leise wie ein Dieb in der Nacht schlich Campion zurück in die durchstöberte Kammer ihres Vaters, räumte die große Holztruhe frei und warf alles, was sie daraus hervorzog, auf einen Haufen.
Sie untersuchte den Boden, sah auf Anhieb nichts, was ihr weiterhalf, hörte aber immerzu die Stimme aus ferner Vergangenheit, die ihr zurief: «Such weiter, such weiter!»
Sie versuchte, die Truhe hochzuheben, was ihr jedoch unmöglich war. Stattdessen fuhr sie tastend mit den Händen darin umher und drückte mit dem Finger in jedes Astloch. Es bewegte sich nichts, keine Stelle gab nach. Und doch spürte sie deutlich, dass sie dem Ziel ganz nahe war.
Am Ende war es ganz einfach. Der Sockel der Truhe war mit einer lackierten Leiste beschlagen. Daran hatte sie schon mehrfach gezogen und gezerrt. Nun kam sie auf den Gedanken, die Truhe ein Stück weit hoch zu hebeln und einen der schweren Schuhe des Vaters darunter zu verkeilen, um dann den Boden von unten ertasten zu können. Als sie eine Hose, die ihr im Weg lag, beiseitewischte, fiel ihr plötzlich etwas auf, das sie in der Dunkelheit bislang übersehen hatte. In der Sockelleiste an der rechten Seitenwand war ein Griff eingelassen, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Transport der schweren Truhe erleichtern sollte. Sie ging davor in die Knie, langte mit der Hand in den Griff und versuchte erneut, den Kasten anzuheben.
Das gelang ihr zwar nicht, doch bemerkte sie, dass sich die Leiste bewegte, zwar nur um eine Winzigkeit, aber sie bewegte sich. Mit einem weiteren Versuch, daran zu zerren, verschaffte sie sich Gewissheit. Die Leiste bewegte sich deutlich.
Das kleine Fenster in der Wand hinter ihr war unverblendet. In seinem Ausschnitt zeigte sich, dass der Himmel lichter wurde. Bald würde die Dämmerung einsetzen.
Die Zeit drängte. Hektisch befingerte Campion die Sockelleiste und die darin eingelassene Griffmulde. Wieder und wieder zerrte sie daran mit aller Kraft, was sich aber als sinnlos erwies.
Doch plötzlich erfühlte sie mit den Fingerspitzen einen kühlen Gegenstand in der Kehlung des Griffs, einen kleinen Metallring, wie sie bei genauerer Untersuchung feststellte. Als sie daran zog, war ein Klicken zu hören. Sie erstarrte und fürchtete, das Geräusch könnte die Haushälterin geweckt haben und aus ihrer Kammer locken. Doch es blieb still im Haus.
Campions Herz pochte so ungestüm, wie wenn sie am Bach ihre Kleider ablegte und nackt ins Wasser watete.
Als sie nun an dem Griff zog, gab die Sockelleiste nach. Dahinter öffnete sich eine flache, verborgene Schublade, die quietschend über die Holzführung schabte. Campion erstarrte wieder.
Sie biss sich auf die Lippen und schloss die Augen, als ließen sich auf diese Weise die verräterischen Geräusche unterdrücken.
Sie zog die Lade heraus. Das Versteck ihres Vaters war entdeckt. Am Boden kniend, hielt sie inne und wartete für den Fall, dass sich im Haus irgendjemand rührte.
Die ersten Vögel fingen an zu singen. Bald würde Werlatton, wie sie wusste, zum Leben erwachen. Sie musste sich beeilen.
In der Lade befanden sich zwei Bündel. Sie hob das erste an und hörte Münzen darin klirren. Offenbar hatte ihr Vater Geld für Notzeiten zurückgelegt. Die meisten Haushalte, selbst die ärmsten, vertrauten auf solche Reserven. Agnes hatte ihr einmal gesagt, dass ihre Mutter eine lederne Börse mit zwei Goldstücken in der Traufe des Strohdaches versteckt gehalten habe. Matthew Slythes Hort schien um einiges größer zu sein. Sie legte den Beutel auf eins seiner Hemden und nahm dann das kleinere, leichtere Bündel zur Hand.
Mit angehaltenem Atem schob sie die Lade wieder zu. Es sollte niemand wissen, dass sie hier gewesen war. Am Ring in der Griffmulde spürte sie, wie die Sockelleiste einrastete.
Draußen ertönte ein Glockenschlag. Sie hörte die Wasserpumpe im Hof knarren und quietschen. Werlatton war erwacht. Sie wickelte das Hemd um die beiden Fundstücke, stahl sich aus dem Raum und schlich eilends zurück in ihr eigenes Schlafzimmer.
In dem Beutel steckten fünfzig Pfund, eine Summe, von der die meisten nur träumen konnten. Fünfzig Goldmünzen, in die der Kopf von König James geprägt war. Das Geld lag vor ihr auf dem Nachttisch, und Campion lächelte in Gedanken daran, dass ihr nun dank des Geldes, das ihr Vater für Notzeiten angespart hatte, die Flucht von Werlatton möglich war. Vorsichtig steckte sie das Geld zurück in den Beutel, lautlos, Münze für
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