Das Hexen-Amulett (German Edition)
Tür hinter sich zugesperrt, was Campion zusätzlich beunruhigte.
Sie zögerte, unschlüssig, ob es ihr wohl gestattet sei, sich in dieser fremden, stillen Kammer frei zu bewegen. Doch neugierig auf die Aussicht, trat sie vor eines der großen doppelflügeligen Fenster und blickte hinaus auf die Themse. Das Schweigen im Haus wirkte noch seltsamer angesichts des geschäftigen Treibens auf dem Fluss, von dem kein Laut heraufdrang. Unter ihr und nur vom Erdgeschoss erreichbar, war ein Garten mit Spalierobstbäumen, sorgfältig gepflegten Blumenbeeten und kiesbestreuten Wegen, die alle auf einen Pier am Fluss zuführten.
An diesem Pier lag eine weiß lackierte, stattliche Barke. Darin saßen vier Ruderknechte, die Ruder wie Lanzen neben sich aufgepflanzt. Es schien, als präsentierten sie sich dem kritischen Blick ihres Herrn. Im Bootsheck befand sich eine breite, mit Kissen gepolsterte Bank, auf der sich Campion Sir Grenville in vollem Staat vorstellte.
Sie wandte sich von dem großen, samtbehangenen Fenster ab und sah sich im Raum um, der nur spärlich, aber kostbar möbliert war. Vor dem Fenster befand sich ein riesiger Schreibtisch, überhäuft mit Papieren. Dahinter stand, zur Mitte des Raums ausgerichtet, ein schwerer Ledersessel mit breiten, nach außen geneigten Armlehnen. Ein kleiner, schmächtiger Stuhl, in einigem Abstand vor dem Schreibtisch platziert, passte so gar nicht ins Bild des Raumes, das von einem imposanten marmornen Kamin vor der Wand gegenüber beherrscht wurde. Auf dem Rost lagen Holzscheite, an die, wie Campion vermutete, wohl erst im Herbst Feuer gelegt werden würde. Über der Feuerstelle hing ein übergroßes Gemälde.
Das Bild ließ sich mit zwei Klappen verschließen, die wie die Vertäfelung des Raumes aus gekalkter Eiche bestanden. Nun aber waren sie aufgeklappt, sodass sich das Gemälde in vollem Ausmaß darbot. Es war großartig und schockierend zugleich. Vor einem dunklen Wald saß, von gleißendem Sonnenlicht beschienen, ein junger nackter Mann von schlankem, edlem Wuchs und sonnengebräunter Haut. Unweigerlich stellte sich Campion ihren Geliebten ebenso herrlich vor und schämte sich für diesen Gedanken, der so schockierend wie angenehm war. Dann aber vergaß sie ihre Schwärmereien, in Bann geschlagen von dem Gesicht des dargestellten jungen Mannes.
Es war ein außergewöhnliches Gesicht, faszinierend schön, hochmütig und von heidnischer Wildheit. Auf diesen Kopf, so dachte sie, passte ein goldener Helm, und der Blick des Helden müsste auf erobertes Land gerichtet sein. Er hatte goldene Haare, die zu beiden Seiten eines breiten, grausamen Mundes herabfielen. Campion hätte nicht für möglich gehalten, dass ein Mann so schön sein konnte, so furchterregend und begehrenswert zugleich.
Er schaute nicht aus dem Bild heraus, sondern starrte auf einen zwischen Felsen versteckten Tümpel, der selbst nicht zu sehen, wohl aber zu vermuten war, weil sich auf dem Antlitz des jungen Mannes die Wellen spiegelten so wie an der Zimmerdecke das bewegte Wasser der Themse.
Campion war wie gefesselt von dem Bild. Sie fragte sich, ob es ihr gefiele, einem solch edlen, hochtrabenden und vollkommenen Mann zu begegnen. Gewiss, er war nichts weiter als die Phantasie eines Malers, und doch konnte sie die Augen nicht von ihm lassen.
«Gefällt Euch mein Gemälde?» Sie hatte nicht gehört, dass die Tür neben dem Schreibtisch aufgegangen war, drehte sich erschrocken um und sah eine der seltsamsten Gestalten im Türausschnitt stehen, die ihr je zu Gesicht gekommen waren, einen Mann von grotesker Hässlichkeit. Er grinste spöttisch.
Sir Grenville Cony – das musste er wohl sein, wie sie vermutete – war einen Kopf kleiner als sie. Sein monströser Bauch wurde von dürren Beinen gehalten, die ihrer Aufgabe kaum gewachsen zu sein schienen. Sein Gesicht hatte mit seinem in die Länge gezogenen Mundschlitz und den freudlosen Glubschaugen verblüffende Ähnlichkeit mit dem eines Frosches. Die Haare waren weiß, gelockt und buschig. Er trug Kleider aus braunem, edlem Stoff, der sich um seinen massigen Leib spannte. Sein Blick war über ihren Kopf hinweg auf das lebensgroße Abbild des nackten Mannes gerichtet. «Das ist Narziss, in sich selbst verliebt. Für mich ist er eine Mahnung an die Gefahren übersteigerter Selbstbezogenheit. Es wäre doch zu dumm, wenn ich mich wie er am Ende in eine Blume verwandelte, nicht wahr, Miss Slythe?» Er lachte. «Ihr seid doch Miss Slythe?»
«Ja, Sir.»
Er
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