Das Hexenbuch von Salem
aufstieg, von der sie sich nicht erinnern konnte, dass sie sie in jener Nacht bemerkt hatte. Ihr erinnertes Ich ließ das alte Buch fallen, rieb sich die Hand und wackelte mit den Fingern, um sie von dem Schmerz zu befreien. »Worüber denkst du nach«, fragte sie das Bild. Jetzt wandte es Connie das Gesicht zu, lächelte, ließ den Schlüssel aus der Bibel gleiten, die zu Boden gefallen war, hielt ihn der Connie aus der realen Welt hin, damit sie ihn sah, und löste sich langsam in der Dunkelheit auf.
In diesem Moment ging Connie ein Licht auf. »Ich habe mich gefragt, wessen Geschichte ich wohl hier finden würde«, sagte sie, an die leere Stelle gerichtet, wo vorher ihr eingebildetes Selbst gekniet hatte. »Der Schlüssel und die Bibel haben meine Frage beantwortet, obwohl mir gar nicht bewusst war, dass ich sie überhaupt gestellt hatte!« Sie schlang die Arme um sich, um die Achterbahnfahrt ihres Herzens zu stoppen. »Es muss an den Worten liegen«, flüsterte sie sich zu.
Sie eilte mit der Öllampe zu Grannas Schreibtisch zurück, Arlo rannte im Galopp hinter ihr her, als wäre er genauso bei der Sache wie sie. »Aber es liegt nicht nur an den Worten. Sam hat die lateinische Rezeptkarte auch ausprobiert, und
es hat nicht funktioniert.« Sie setzte sich, wägte diese Details ab. Schließlich nahm sie wieder das Buch über abergläubische Riten zur Hand, und blickte suchend über die Seite, die sie zuvor gelesen hatte, um zu sehen, ob sie ihr noch mehr sagen konnte. Rasch überflog sie ein paar weitere Beispiele für die Technik des »Schlüssel und Bibel« im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, und hielt erst drei Seiten später im Kapitel wieder inne.
»Eine andere, weit verbreitete volkstümliche Technik der Wahrsagerei, die ebenso schlicht wie für alle gesellschaftlichen Schichten zugänglich war, bestand im sogenannten Sieb und Schere . Dazu hielt man ein Sieb über eine offene Schere und stellte eine Frage, auf die es als Antwort nur Ja oder Nein geben konnte. Wie bei Schlüssel und Bibel glaubte man, wenn sich das Sieb umdrehte, bedeute dies die Bestätigung der gestellten Frage. Man geht davon aus, dass der Ursprung dieser Technik in Zusammenhang mit dem relativ hohen Wert von Scheren steht; wenngleich ein gewöhnliches Haushaltsgerät, waren sie dennoch recht kostspielig und schwer herzustellen. Eine besondere Bedeutung hatten sie in der Neuen Welt, wo man erst relativ spät zur Herstellung von Scheren und ähnlichen Schneidegeräten in der Lage war. Manches deutet darauf hin, dass diese Methode vor allem zum Auffinden von verloren gegangenem Eigentum angewandt wurde, insbesondere zum Aufspüren von Dieben in einer Epoche, in der es praktisch keine offizielle Handhabe zur Ergreifung von Kleinkriminellen und zur Wiedergutmachung gab, außer dem Druck der Gemeinschaft und der gegenseitigen Überwachung.«
Connie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und zog die Knie zur Brust hoch. Sie stieß langsam den Atem aus. Ihre Gedanken wanderten zu Sam, so verletzlich und allein. Ein verrückter Unfall hatte genügt, und er war ans Krankenhausbett
gefesselt. Sie fragte sich, wie Grace es geschafft hatte, mit ihrem Leben fortzufahren, nachdem Leo verschwunden war. Wie hatte sie ihren Alltag bewältigen können, ohne zu wissen, was geschehen war? Natürlich, damals war Krieg gewesen. Menschen verschwanden. Eine Welle der Trauer stieg in Connies Brust hoch, als sie an ihre Mutter dachte, wie sie, ganze einundzwanzig Jahre alt und am Ende ihrer Ausbildung am College, gewartet hatte. Connie fragte sich, wie lange sie wohl gewartet, sich an ihre Hoffnung geklammert hatte, bevor sie endlich begriff, dass es besser war, damit aufzuhören.
Auf einmal fällte Connie eine Entscheidung.
»Auf geht’s«, sagte sie zu dem Hund, der hinter ihr hertrottete, als sie mit der Öllampe in der Hand in Richtung Küche ging.
Nach einigem Kramen hatte Connie das Original-Nudelsieb aus den Siebzigern mit der abgeplatzten, limettengrünen Keramikbeschichtung gefunden sowie eine rostige Gartenschere, deren Hände sich mithilfe von ein paar Tropfen Salatöl wieder einwandfrei bewegen ließen. »Glaubst du, ein Durchschlag zählt als Sieb?«, fragte sie in die leere Küche hinein. Arlo hockte zu ihren Füßen und ließ sie nicht aus den Augen, aber sie hatte die Frage nicht wirklich an ihn gerichtet. Vielleicht hoffte sie zu erspüren, was Granna davon gehalten hätte. Offensichtlich hatte Granna mit Kochen nicht viel am
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