Das Hexenkraut
Alten zu einem Gebüsch. Er hob ein paar Zweige hoch und deutete auf die Erde. Dicht am Boden wuchs eine ungefähr dreißig Zentimeter hohe Pflanze mit mehreren rotvioletten Blüten, die wie Trichter geformt waren. Die Blätter waren behaart und mit weißen Flecken gesprenkelt.
»Blutkraut!«, rief Marthe und kniete sich vor die Pflanze.
Jakobs Augen weiteten sich vor Freude.
»Wozu braucht ihr das Kraut?«, fragte der Alte.
»Meine Mutter ist sehr krank.« Jakob hockte sich neben Marthe und sah das Blutkraut genau an. Das war sie also, die Pflanze, die seiner Mutter vielleicht das Leben retten konnte.
Der Einsiedler nickte. »Das Blutkraut heilt die Lungen. Es löst den giftigen Schleim«, sagte er, während Jakob und Marthe hastig das Blutkrautsammelten. »Weiter unten in der Schlucht findet man noch Bärlauch. Der reinigt das Blut.«
»Woher wisst Ihr das alles?«, fragte Jakob und steckte unablässig weitere Stängel Blutkraut in den Mantelsack. Er war so froh, das lebensrettende Kraut gefunden zu haben, dass er alle Vorsicht vor dem Alten vergaß. »Seid Ihr etwa auch eine Kräuterhexe, wie Marthes Mutter?«
Marthe stieß Jakob in die Seite. »Meine Mutter ist keine Hexe!«, zischte sie.
Der Alte sah Jakob lange an, ohne etwas zu erwidern. Jakob stockte. Ihn fröstelte, obwohl Sonnenstrahlen seine Haut wärmten. Er hatte das Gefühl, der Blick des Alten ließ ihn erfrieren.
Langsam hob der Mann die Hand und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Jakob. »Bezichtige nie jemanden der Hexerei, und sei es nur im Spaß.«
Jakob wich dem Blick des Alten aus und nickte. Auf einmal schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er wusste nicht, ob er es wagen konnte, diesen seltsamen Einsiedler das zu fragen. Aber seine Neugier war schließlich größer. »Ist das der Grund, warum Ihr Euch von den Menschen zurückgezogen habt und im Höllengebirge lebt? Haben die Menschen Euch für einen Hexer gehalten?«, fragte er.
Eine Weile blickte der Alte stumm in die Ferne. Jakob war sich nicht sicher, ob er seine Frage überhaupt gehört hatte. Doch dann ließ sich der Mann neben den Kindern auf dem Boden nieder. »Ihr sollt meine Geschichte hören. Sie ist unfassbar und grausam, aber ich werde sie euch erzählen.« Er strich sich über den Bart. »Ich komme vom Nordwesten, von der anderen Seite der Berge«, begann er. »Einst war ich ein angesehener Mann. Ich war Apotheker. Meine Frau und ich, wir kannten fast jeden im Ort. Alle waren schon einmal bei uns gewesen, um ihre Schmerzen zu lindern. Vielen hatten wir geholfen, obwohl sie keinen Taler in der Tasche hatten. Vor allem meine Frau. Sie sagte, es wäre Gottes Wille, dass wir einander in schwierigen Zeiten beistehen, und Gott würde es uns vergelten.« Der Alte hielt einen Moment inne.
Jakob fragte sich, wo die Frau des Apothekers jetzt war. Hatte sie ihn verlassen, weil er der Hexerei verdächtigt war?
»Und dann?«, fragte er vorsichtig. Er wollte die Geschichte des Alten hören. Aber er wollte auch so schnell wie möglich mit dem Blutkraut zurück zu seiner Mutter.
Jakobs Frage riss den alten Apotheker aus seinenErinnerungen. »Dann wurde der bischofstreue Ratsherr Lampert Bürgermeister.« Als der Mann den Namen aussprach, verzog sich sein Gesicht, als hätte er etwas Giftiges im Mund. »Es war das Jahr einer großen Missernte. Mehrere Seuchen suchten die Stadt heim. Die Menschen litten erbärmlich, sie hungerten, viele starben. Sie forderten den Bürgermeister auf, etwas zu unternehmen. Meine Frau und ich sprachen sogar persönlich bei ihm vor. Der aber suchte nur nach Schuldigen. Bald machte ein Gerücht in der Stadt die Runde: Hexen wären an all dem Leid schuld. Sie hätten ein Unwetter beschworen und damit die Ernte verdorben.«
»Das behaupten zwei Bauern auch von meiner Mutter«, sagte Marthe.
Der alte Mann sah sie einen Augenblick nachdenklich an. Dann fuhr er mit seiner Geschichte fort: »Kurz darauf klagte ein angesehener Kaufmann eine seiner Mägde der Hexerei an. Wir kannten die Magd. Sie war oft zu uns in die Apotheke gekommen und hatte sich unseren Rat eingeholt. Sie war ein freundliches, sehr hübsches Mädchen. Der Kaufmann behauptete, sie hätte das Essen verhext und einen Teil seiner Waren verdorben, sodass er sie nicht mehr verkaufen konnte.«
»Aber warum sollte sie das tun?«, wunderte sich Jakob. »Als Magd lebt sie doch beim Kaufmann im Haus. Wenn er seine Waren nicht verkaufen kann, bleibt auch für sie weniger zum Leben.«
Der Alte
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