Das Hexenkreuz
deiner Heimat sterben.“ Morgane
wackelte mit ihren Ohren, als hätte sie jedes Wort verstanden. Sie erhob sich
majestätisch und ein Zittern überlief ihre Flanken. Sie näherte sich Emilia und
presste ihren Kopf gegen die eisernen Stäbe ihres Gefängnisses, als wollte sie
sich dazwischen hindurch zwingen. Tief versenkte sie ihren melancholischen
Blick in Emilias. Lange sahen sie einander so an: Die junge Frau und die weiße
Tigerin, beide einmalige Exemplare einer vollkommenen Schöpfung, vereint in
ihrem Schicksal als Gefangene des Grafen Bramante. Ganz langsam hob Emilia ihre
Hand, steckte sie durch die Stäbe und strich über Morganes Kopf. Die Tigerin
schloss kurz die Augen, dann öffnete sie sie wieder und stupste Emilias Arm
sanft mit ihrem Maul an. Plötzlich ging ein Ruck durch Emilia Körper: „Aber
natürlich, du hast ja Recht! Warum bin ich nicht längst selbst darauf
gekommen?“ Später schlenderte sie langsam an dem Gehege entlang, pflückte hier
und da wilde Blumen und näherte sich dabei unaufhörlich dem kleinen Häuschen
des Aufsehers.
Bei ihrer Rückkehr erwartete Emilia eine Überraschung: Die
Kutsche mit dem Wappen des Grafen parkte auf dem Rondell vor der Freitreppe.
Zwei livrierte Diener waren damit beschäftigt, das umfangreiche Gepäck zu
entladen. Graf Bramante dirigierte sie herrisch. Floriano stand neben ihm. Das
also war aus dem Jüngling geworden, er hatte seinen Herrn begleiten dürfen.
Der Graf bemerkte
die junge Frau und schritt ihr mit einem jovialen Lächeln entgegen. „Schönste
Emilia, da seid Ihr ja! Ich hoffe, meine Abwesenheit wurde Euch nicht allzu lang?
Als Entschädigung habe ich wundervolle Dinge für Euch erstanden.“ Er küsste
ihre Hand und ließ sie nicht mehr los, sondern führte sie mit sich die Treppe
hinauf. „Ich hoffe doch sehr, Ihr leistet mir heute Abend beim Souper
Gesellschaft? Ich brenne darauf, Euch meine Erlebnisse zu berichten, doch
zuerst muss ich den Staub von halb Europa von mir abschütteln.“
Am Abend,
die Sonne war bereits untergegangen und Emilia und der Graf hatten sich zum
gemeinsamen Mahl niedergelassen, wehten aufgeregte Stimmen aus dem Vestibül zu
ihnen herüber. Der Graf schickte Conradin los, um sich nach dem Grund für die
Störung zu erkundigen.
Conradin
kehrte alsbald zurück, hinter ihm marschierte der Aufseher Zenga. Von Kopf bis
Fuß in braunes Leder gehüllt und mit an der Hüfte baumelnder Peitsche, wirkte
er wie ein antiker Gladiator. Er blickte gequält, wie jemand, der unangenehme
Nachrichten zu überbringen hatte. Emilia versenkte ihre Nase im Glas.
„Was soll
das, Meister Zenga? Was ist so wichtig, dass Ihr mein Mahl stört?“ Der Graf
hatte sich von seinem Stuhl erhoben, kaum dass der Aufseher den Raum betreten
hatte.
Zenga warf
sich nach vorne, senkte ein Knie vor dem Grafen und murmelte mit gesenktem
Kopf: „Herr, der Tiger Morgane ist verschwunden. Verfahrt mit mir nach
Belieben, denn es ist allein meine Schuld.“
„Natürlich
ist es Eure Schuld…“, erwiderte der Graf hart. „Wie konnte das passieren?“
Ein Zittern
durchlief Zengas mächtigen Körper: „Jemand muss den Schlüssel zum Tigergehege
aus meiner Hütte entwendet und das Schloss geöffnet haben. Das Schloss wurde
wieder versperrt, der Schlüssel selbst ist verschwunden.“
Emilia
versenkte ihr Gesicht noch tiefer in den Weinkelch. Der Aufseher hatte den
Schwachpunkt ihres Planes angesprochen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, den
Schlüssel wieder zurück an das Brett zu hängen, um den Aufseher vor das Rätsel
zu stellen, wie Morgane aus dem Gehege hatte fliehen können, wenn ihr nicht
zwischenseitlich Flügel gewachsen sein sollten. Leider war just in diesem
Augenblick der Vogelaufseher aus dem kleinen Wäldchen getreten, in dessen
Lichtung sich die riesige Voliere mit Bramantes Sammlung befand. Sie hatte den
Schlüssel daraufhin einfach von sich geworfen und sich davon gemacht.
„Geht!“, befahl
der Graf dem Aufseher nun. „Nehmt Euch soviele Männer, wie Ihr braucht und
sucht den Tiger. Wagt es nicht, unverrichteter Dinge zurückzukehren. Vor allem
sollte das Tier absolut unversehrt sein. Ihr bürgt mir dafür!“
Emilia
empfand absolute Genugtuung. Wenigstens Morgane schien die Flucht geglückt. Die
Tigerin würde in den nahen Bergen sichere Zuflucht finden.
„Ich bin
untröstlich, meine Liebe“, richtete der Graf das Wort an sie, während er sie
mit einem undefinierbaren Ausdruck betrachtete. „Man hatte mir
Weitere Kostenlose Bücher