Das Hexenmal: Roman (German Edition)
zusammen, das vordere der Straße zugewandt. Hier war das feudale Wohnhaus. Durch die Fenster hatte man einen guten Blick auf die Straße hinunter. An das Wohngebäude schloss sich ein großes Tor an, durch das man den Hof betrat. Im Anbau rechts waren die Küche, die Speisekammer und das Gesinde untergebracht. Links lagerte das Futter für den Winter sowie Heu und Stroh. In einem kleineren, abgegrenzten Verschlag wurden die Pferde beschlagen. Im Gebäude, das parallel zum Wohnhaus stand, befand sich der Stall, in dem die Tiere im Winter ihr Quartier bezogen. Im Sommer stand er meistens leer. Nur das Schlachtvieh hörte man dort grunzen, da die Schweine direkt hinter dem Stall einen offenen Verschlag hatten.
Mitten im Hof stand ein alter Baum, eine Pferdetränke aus Sandstein davor. Anna setzte sich auf den Rand der Tränke und lauschte den Vögeln.
»Hast du nichts zu arbeiten?«, wurde sie plötzlich schroff zurechtgewiesen. Anna hatte nicht bemerkt, wie ihr Ehemann
neben sie getreten war. Sie räusperte sich und antwortete verlegen: »Ich fühle mich nicht wohl und möchte nur einen Moment hier verweilen.«
»Ach, dummes Zeug! Was soll dir schon fehlen? Du bist ein schlechtes Beispiel für das Gesinde, wenn du klagst. Dann verkriech dich lieber in dein Zimmer, wo dich niemand sieht.«
Kopfschüttelnd ging Münzbacher zur Schmiede.
›Nicht ein Wort, wo es mich plagt‹, dachte Anna und musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Sie spürte, wie ihr Hals sich verengte und strich sich über den Kehlkopf.
Wenn sie das alles nur geahnt, ihrem Bruder nur geglaubt hätte, dann wäre sie nie die Frau von Wilhelm Münzbacher geworden. Wie hatte sie sich so täuschen können? Sich nur so täuschen lassen? Schon seit Monaten hatte sie kein freundliches Wort mehr von ihm gehört. Auch rührte er sie nicht mehr an, was sie allerdings nicht weiter störte. Sie konnte das Gefühl nicht unterdrücken, dass es ihm nur um ihr Geld gegangen war. Auch fiel ihr auf, dass er, sobald Fremde anwesend waren, den besorgten und liebenden Ehemann spielte. So würde es sicherlich auch heute Abend wieder sein, wenn Herr Rehmringer und seine Mutter zu Besuch kamen. Anna fühlte sich dann stets wie in einem Theaterstück, in dem jeder eine Rolle verkörperte. Sobald der Vorhang jedoch fiel, zeigten alle ihr wahres Gesicht.
Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn sie sich eine Weile zurückzog und hinlegte. Anna strich sich wieder über die Kehle. Wenn es nicht besser werden würde, müsste sie einen Arzt konsultieren. Erschöpft ging sie in ihr Zimmer. Da sie sich im Hof nicht umblickte, konnte sie nicht sehen, wie Münzbacher ihr mit einem hämischen Blick hinterherschaute.
Als Anna etwas geruht hatte, fühlte sie sich besser. Sie erfrischte sich mit kühlem Wasser und kleidete sich sorgfältig an, wohl
wissend, dass ihr Mann Wert darauf legte, dass sie sich heute beim Essen von ihrer besten Seite präsentierte.
Sie wählte ein leichtes, hellblaues Kleid, das mit Silberfäden bestickt war. Die Farbe der Robe unterstrich ihre blasse Haut und ihre himmelblauen Augen. Das dunkle Haar ließ sie sich flechten und hochstecken. Sie kniff sich leicht in die Wangen, damit ihr Gesicht eine gesunde Rötung bekam. Jetzt war Anna mit ihrem Spiegelbild zufrieden.
Als sie die Treppe hinunterschritt, hörte sie bereits die tiefe Stimme des Gastes durch die Halle dröhnen.
Melchior Rehmringer war eine imposante Erscheinung, fast zwei Meter groß, mit breiten Schultern, und es schien, als könne er mit Leichtigkeit einen ganzen Baumstamm stemmen.
Er reichte Anna zur Begrüßung seine Pranke, in der ihre zarte Hand gänzlich verschwand. Langsam führte er ihre Finger zu seinem Mund und deutete einen Handkuss an.
»Ihr seht bezaubernd aus, meine Liebe«, lobte er und meinte an Münzbacher gewandt: »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass diese Perle Euch geheiratet hat.«
»Ich habe sie geheiratet, nicht umgekehrt!«, antwortete Münzbacher süffisant lächelnd und musterte Anna hochmütig.
»Wo ist da der Unterschied?«, fragte Herrn Rehmringers Mutter, die das genaue Gegenteil ihres Sohnes war und hinter seiner gewaltigen Gestalt kaum zu sehen war. Die kleine, zarte Frau umarmte Anna erfreut und hakte sich bei ihr unter.
Anna versuchte zu lächeln, obwohl sie die spitze Bemerkung ihres Mannes verstanden hatte. Jedoch schienen die Gäste die Spannung zwischen dem Ehepaar nicht zu bemerken, sodass Anna sich wieder
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