Das Hexenmal: Roman (German Edition)
gewesen. In all den Jahren, die er nun schon zur Familie gehörte und in denen sie ihn besser kennengelernt hatte, waren ihre Vorbehalte stets aufs Neue bestätigt worden. Sie hatte nie verstanden, warum ihre ältere Tochter dem Werben dieses Mannes nachgegeben hatte. Anfangs hatte sie ihre Bedenken ihrem Mann gegenüber noch geäußert, und er hatte gelacht. Aber als sie nicht damit aufhören wollte, war Albert Jacobi zornig geworden. Schließlich
entstammte Otto einer angesehenen Familie und war eine gute Partie für ihre Silvia. Jeder würde sich einen solchen Schwiegersohn wünschen. Verbittert erinnerte sich die Mutter, wie schnell sich die Männer der beiden Familien über die Mitgift einig gewesen waren, und dass schon nach wenigen Monaten Silvia Ottos Frau geworden war.
Nun stand sie am Sterbebett der Tochter. Der Schwiegersohn hatte Schuld an diesem Leid, das über ihre Familie hereinbrach. Dass drei kleine Kinder ohne Mutter aufwachsen mussten. Barbara kämpfte mit den Tränen.
Wo aber blieb ihre jüngere Tochter? Wie konnte sie sich herumtreiben, während ihre Schwester im Sterben lag? Da öffnete sich die Zimmertür, und ein blondes Mädchen mit langen Zöpfen betrat furchtsam den Raum. Es war ihr anzusehen, dass sie geweint hatte, auf ihren Wangen glänzten Tränen. Katharina war an diesem Tag nicht im Armenhaus gewesen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer versteckt. Nun zitterte sie am ganzen Körper. Die Schreie ihrer Schwester bei der Geburt des Kindes wenige Tage zuvor hallten noch im Kopf des Mädchens nach. Nein, niemals würde sie ein Kind bekommen! Lieber würde sie ins Kloster gehen. Katharina blieb an der Tür stehen und sah zu dem wuchtigen Holzbett. Tiefe Traurigkeit überkam sie. Sie wollte nicht, dass die Schwester von ihr ging, wollte nicht, dass sie sie allein ließ. Vor Silvias Heirat waren sie wie Freundinnen gewesen. Sie hatten sich alles erzählt, über alles geredet, zusammen gelacht und zusammen geweint. Nach der Hochzeit hatte Silvia sich verändert, war ernst geworden und hatte nur noch selten Zeit für sie gehabt. Doch sie war noch immer ihre geliebte große Schwester. Und in diesem Augenblick des Abschieds mehr denn je.
Katharina glaubte, in diesem Raum zu ersticken. Zwischen den Wänden hing bereits der Hauch des Todes, den sie spüren, sogar riechen konnte. Langsam wandte sie sich zur Tür. Ihre
Mutter packte sie an den Schultern, um sie am Weggehen zu hindern, als die Sterbende ihre Hand ausstreckte und flüsterte: »Komm zu mir, meine kleine Kathi.«
Die Siebzehnjährige ging zögernd auf das Bett zu. Sie beugte sich weit vor, um in die Augen ihrer Schwester blicken zu können. Als sie Silvias Gesicht sah, das in nichts mehr dem schönen Antlitz in ihrer Erinnerung glich, warf sich das Mädchen schluchzend auf die Brust der Schwester. Ein Weinkrampf schüttelte Katharinas zarten Körper. Zärtlich fuhr ihr eine kalte Hand über das Haar.
»Weine nicht, meine kleine Kathi. Auch wenn ich nicht mehr auf dieser Erde weile, so werde ich stets bei dir sein. Ich werde immer auf dich herabblicken. Ich muss doch wissen, ob Otto und du glücklich miteinander werdet.«
Fragend sah ein tränennasses Gesicht die Sterbende an. Auch die Eltern blickten verständnislos auf ihre ältere Tochter. Nur Otto schienen die Worte seiner Frau nicht zu überraschen.
Katharina fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und fragte: »Wie meinst du das, Silvia?«
»Ich möchte, dass du mir einen letzten Wunsch erfüllst. Erst, wenn du mir das versprichst, kann ich in Frieden gehen. Nur dann weiß ich, dass es meinem Mann und meinen Kindern an nichts mangeln wird …«
»Silvia, wir verstehen nicht, was du meinst. Welches Versprechen soll dir Katharina geben?«, fragte nun der Vater, der die ganze Zeit fast regungslos neben dem Bett verharrt hatte. Stumm wandte er sich seiner Frau zu und erschrak über den Ausdruck auf ihrem Gesicht: Ablehnung und Hass waren in ihren Zügen zu erkennen. Aber nicht ihm galt dieser Ausdruck, sondern dem Schwiegersohn. Ihre Lippen, hart aufeinandergepresst, waren nur noch ein blutleerer dünner Strich. Albert Jacobi hörte sie flüstern: »Du bekommst sie nicht!«
Irritiert sah er wieder zu seiner älteren Tochter. Voller Liebe
ruhte deren Blick auf der jüngeren Schwester und ihrem Ehemann. Dann sagte sie mit kraftloser Stimme: »Ich möchte, dass du Otto heiratest. Das soll mein letzter Wunsch sein, bevor ich diese Welt verlasse. Du sollst meinen Platz bei meinen
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