Das Hexenmal: Roman (German Edition)
fiel, beendeten den Streit. Dann war es ruhig im Haus. Einige Minuten später wurde langsam die Tür von Johanns Zimmer geöffnet. Annerose trat ein. Sie hielt sich ihre gerötete Wange. Bestürzt ging Lutz auf seine Schwester zu und umarmte sie wortlos. Annerose legte ihren Kopf an seine Schulter und konnte ihr Schluchzen nicht mehr zurückhalten.
»Annerose, sage nicht, dass er auch dich züchtigt.«
Ihr Weinen wurde so stark, dass sie kaum Luft bekam. Und dann brach alles aus ihr heraus. All die unterdrückten Tränen, der verdrängte Kummer und die Sorge um ihren Sohn. Wie früher, als sie noch Kinder waren, fühlte sich Lutz seiner Schwester sehr nahe. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das zum letzten Mal gewesen war. Die Nähe des Bruders schien Annerose zu beruhigen, und sie blieb auch dicht bei ihm stehen, als das Schluchzen aufhörte.
»Wie kann ich dir, wie kann ich euch helfen?«, wollte Lambrecht wissen. Hilflos zuckte sie mit den Achseln und setzte sich zu ihrem Sohn ans Fußende des Betts.
»Ach, Lutz, wäre Johann nie auf die Idee gekommen, dieses Mädchen heiraten zu wollen, dann wäre alles so geblieben wie es war.«
»Ich bin mir sicher, dass wenn du Franziska näher kennen würdest, du zu dem Schluss kämest, dass sie ein gutes Mädchen ist. In dieser schlimmen Zeit, wo Menschen sich gegenseitig richten, verleumden, anzeigen und töten, ist es doch wunderbar, dass es so viel Zuneigung zwischen zwei jungen Menschen gibt. Johann und Franziska lieben sich aufrichtig. Das müsstest du als Mutter erkennen und froh darüber sein.«
»Liebe, was ist schon Liebe? Wie wichtig ist Liebe? Sie hält nicht ewig, und irgendwann ist sie nicht mehr da. Und dann, Lutz? Dann ist es wichtiger, dass Gleich und Gleich zusammen sind. Franziska hat nichts und wird nie etwas ihr Eigen nennen können. Geld soll zu Geld.«
»Hast du das damals auch so gedacht, als du dich für Casper entschieden hast?«, fragte Lutz sie lächelnd, um der Frage die Schärfe zu nehmen. Trotzdem rief Annerose empört aus: »Das war damals etwas anderes!«
»Ach ja? Das musst du mir genauer erklären«, verlangte der Bruder.
»Das geht niemanden etwas an, auch dich nicht, nicht als meinen Bruder und auch nicht als den Herrn Pfarrer. Ich habe mich damals für Casper entschieden, und nur der Tod wird uns trennen.«
»Wenn er seine Familie weiter so peinigt, kann das schneller gehen, als mir lieb wäre.«
Entrüstet sah Annerose den Bruder an, erwiderte jedoch nichts.
Auch Lambrecht spürte, dass es hier nichts mehr zu sagen
gab. Beim Hinausgehen kündigte er an: »Ich werde morgen wieder vorbeischauen. Sorge dafür, dass Casper den Jungen in Ruhe lässt. Ich könnte mir vorstellen, dass er nach seinem Besuch im Wirtshaus nochmals in Johanns Zimmer kommt. Lass den Jungen nicht allein mit ihm. Wer weiß, wozu er im Stande ist!«
Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ Lutz Lambrecht den Hof und ritt nach Hause. Er würde Franziska bei den Hesses unterbringen. Das war eine anständige Familie, ohne Vorurteile und Argwohn. Hier würde es dem Mädchen an nichts fehlen, und da die Hesses mit reichem Kindersegen bedacht waren, war eine helfende Hand sicher willkommen.
Nachdem Lambrecht gegangen war, hing Annerose ihren Gedanken nach. Was wusste ihr Bruder schon von ihr? Was konnte er ahnen? Nichts, war die Antwort auf beide Fragen. Sie hatte ihr Geheimnis bis jetzt gut gehütet. Liebevoll nahm sie die gesunde Hand des Sohnes in ihre und streichelte zärtlich darüber. Im Laufe der Jahre war sie hart und streng geworden, ihren Kindern gegenüber, aber vor allem gegen sich selbst. Zu groß war die Schuld, die sie vor vielen Jahren auf sich geladen hatte.
Liebevoll sah sie ihren Sohn an. Zum Glück glich Johann ihr, seiner Mutter, und nicht seinem Vater.
Annerose wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte Johann seinem leiblichen Vater ähnlich gesehen. Dann wäre alles herausgekommen, so aber blieb es ein Geheimnis, ihr Geheimnis. Liebe, dachte sie, ja, die wahre Liebe hatte auch sie einmal kennengelernt, hatte sie spüren dürfen, leben dürfen. Doch das war lange her, über zwanzig Jahre. Trotzdem wusste sie noch genau, wie Küsse schmeckten, die sich Liebende gaben, wie sich Hingabe anfühlte, die von Herzen kam und nicht als Ehepflicht eingefordert wurde.
Leise seufzte sie. Ja, sie konnte Johann gut verstehen. Konnte
nachempfinden, dass einem Stand, Geld und Ruhm egal waren, wenn man die Liebe im Herzen
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