Das Hexenmal: Roman (German Edition)
trug. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, dass sich die Geschichte, ihre Geschichte, wiederholen würde. Dass ihr Sohn einmal dieselbe Entscheidung treffen müsste wie sie vor langer Zeit. Tief in ihrem Innern bewunderte sie Johann für seine Hartnäckigkeit und Offenheit, die sie nicht gehabt hatte. Ungläubig schüttelte Annerose das Haupt. Aber es konnte nicht gut gehen, dass hatte sie damals gewusst und wusste es heute noch immer. Irgendwann käme die bittere Erkenntnis, dass Liebe allein nicht ein Leben lang genügt. Deshalb hatte sie sich damals für die Vernunft und gegen das Gefühl entschieden.
Doch es verging nicht ein Tag, an dem sie nicht an diese verschmähte Liebe dachte, an ihn dachte, an Johanns Vater. Niemals würde sie diese Gedanken laut aussprechen, nie jemandem davon erzählen. Es würde ihr Geheimnis bleiben. Ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würde.
Zärtlich küsste sie ihren Sohn auf die Stirn. Dann verschloss sie die Tür und steckte den Schlüssel in ihre Rocktasche. Nachdenklich ging sie die Treppenstufen hinunter, um wie immer ihren häuslichen Pflichten nachzukommen.
Kapitel 11
Als Wilhelm Münzbacher durch die Tür des Wirtshauses trat, schlug ihm der Qualm der unzähligen Pfeifenraucher entgegen. Er hasste diese Spelunke, in der das Bier mit Wasser gepanscht wurde und die Menschen in seinen Augen Abschaum waren. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde trieb sich das schlimmste Pack in diesem Teil der Stadt herum. Normalerweise hätte er, der Notar, diese Menschen keines Blickes gewürdigt. In seinen
Augen waren sie Ratten, die in der Stadt nicht geduldet wurden und von dem lebten, was andere übrig ließen. Doch Münzbacher hatte keine Wahl. Sie ließen ihm keine Wahl – Marga und Clemens.
Seitdem die Magd ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte, fand Münzbacher nachts keinen Schlaf. Obwohl es nichts Verwerfliches oder Außergewöhnliches war, dass Mägde von reichen Herren geschwängert wurden, verhielt es sich hier anders. Marga bestand auf die Einhaltung seiner Versprechen und würde ihm ohne Zweifel Schwierigkeiten machen. Für seinen Schwager aber wäre es ein gefundenes Fressen. Clemens wartete nur auf einen passenden Anlass, um Münzbacher Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Ihm war klar, dass Clemens Anna dazu drängen würde, die Ehe annullieren zu lassen. Und da der Notar schon vor Monaten jegliches Interesse an seiner Frau verloren hatte, könnte es leicht sein, Anna zu einer Trennung zu bewegen. Es sei denn, er würde auch sie schwängern, doch die Zeit drängte.
Als Münzbacher den Schankraum absuchte, trübte das schwache Licht der Kerzen seine Sicht. Erschöpft wischte er sich über die Stirn.
›Was für Ärger einem ein Balg bereitete, obwohl es noch nicht einmal geboren war‹, dachte er wütend.
Seine Strategie wäre beinahe perfekt gewesen. Der einzige Fehler hatte darin gelegen, eine schwangere Magd nicht in seinen Plan mit einzubeziehen. Er wusste, dass Marga keine Ruhe geben würde, bis er sie zu sich nähme. Die Wäscherin sah in dem ungeborenen Kind eine Chance, ihrem armseligen Leben zu entfliehen und Münzbacher an sich zu binden. Was sich dieses Weibsstück einbildete! Er musste eine Lösung finden, und deshalb war er hier.
Münzbachers Blick schweifte durch den Raum. Viele Augenpaare musterten ihn. Doch er hatte dafür gesorgt, dass er unter
den Gestalten fast unsichtbar wirkte. Deshalb verloren die Männer sofort das Interesse an ihm und widmeten sich wieder ihren Gesprächen, Würfelspielen und dem dünnen Bier.
Als der Notar den Mann, den er suchte, in der hinteren Ecke erspähte, ging er zu ihm an den Tisch. Im Vorbeigehen bestellte er einen Krug Bier.
Der Kerl war in gräuliche Kleidung gehüllt und verschmolz fast mit der Wand in seinem Rücken. Unter seinem hellen Filzhut sah er Münzbacher spöttisch an und zog an seiner langstieligen Pfeife. Nur sein Mund war klar erkennbar, alles andere lag im Schatten des schwachen Lichts.
Als Münzbacher sich zu ihm setzte, atmete der Mann den Tabakqualm in einer dicken Wolke aus.
»Muss das sein?«, presste Münzbacher mürrisch hervor.
»Was glaubst du wohl, warum hier jeder raucht? Man würde sonst den beißenden Gestank der ungewaschenen Gesellen nicht ertragen.« Wieder paffte der Mann, und Münzbacher konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Fremde sich über ihn lustig machte.
»Auch du siehst aus, als ob du das Badewasser meiden würdest«, meinte der
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