Das Hexenmal: Roman (German Edition)
seine Meinung teilte, auch wenn sie schwieg.
»Er verschwendet unser Geld und schiebt mir den Schwarzen Peter zu«, machte Clemens seinem Ärger Luft.
»Heirate endlich und du bekommst dein Erbe ausgezahlt …«, flüsterte Anna, müde, immer dasselbe antworten zu müssen. Sie räusperte sich. In letzter Zeit hatte ihr mehrfach die Stimme versagt. Unbewusst fasste sie sich an den Kehlkopf und strich sanft darüber. Doch das bedrückende Gefühl blieb. Clemens bemerkte es nicht, er sah seine Schwester nur wütend an.
»Siehst du, du sprichst schon genauso wie er. Warum soll ich heiraten, nur damit er nicht an mein Geld kommt?«
»Unsere Eltern haben mich bis zu deiner Hochzeit zur Verwalterin des Vermögens bestimmt. Wilhelm ist mein Mann und er hat durch unsere Heirat die Verfügungsgewalt erworben. Außerdem versteht er von finanziellen Dingen mehr als wir beide zusammen. Rege dich bitte nicht auf, Clemens. Es ist genügend Geld da.«
»Anna, jetzt reicht es aber. Ich verlange nur das, was mir zusteht!«
»Clemens, heirate! Und gründe deinen eigenen Hausstand. Dann bekommst du, was dir zusteht!« Anna wandte sich ab und blickte aus dem kleinen Fenster, das mit gelblichem Glas versehen war. Hier konnte man das Treiben auf dem Hof beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Außerdem fiel ein warmes, schmeichelndes Licht durch das Glas ins Zimmer.
Anna hoffte, dass ihr Bruder diese Geste verstehen und es endlich gut sein lassen würde. Seit einer Woche musste sie sich
fast täglich seine Vorhaltungen anhören. Da Clemens keine Anstalten machte, aus dem Zimmer zu gehen, atmete sie tief durch und sagte, ohne ihn anzusehen: »Also gut, ich werde noch heute mit meinem Mann sprechen. Vielleicht willigt er ein, dass du wenigstens die Hälfte des Geldes bekommst.«
Dann drehte sie sich zu ihm um und erklärte beiläufig: »Ich verstehe nur nicht, warum du Wilhelm verurteilst. Schließlich liegt dein Vergnügen ebenfalls im Glücksspiel.« Ihre Augen funkelten ihn herausfordernd an.
»Das stimmt«, antwortete Clemens. »Wir lieben beide das Spiel. Doch es ist mein Geld, das ich verliere. Welches Geld verspielt er?«, fragte er und verließ, ohne eine Antwort abzuwarten, das Zimmer.
Anna schloss für ein paar Sekunden die Augen. Die ewigen Vorwürfe ihres Bruders raubten ihr die Kraft. Im Grunde brauchte sie nicht mit ihrem Mann zu reden, da sie seine Antwort bereits kannte. Anna saß zwischen den Stühlen. Natürlich verstand sie den Standpunkt ihres Bruders, doch den ihres Mannes hatte sie zu akzeptieren.
Ach, wenn sie nur die Zeit zurückdrehen könnte! Schon seit Monaten war ihr bewusst, dass sie Wilhelm nicht liebte, nicht einmal mehr ehrte. Was sie für tiefe Zuneigung gehalten hatte, war nicht mehr als das Gefühl der Dankbarkeit gewesen, da sich Wilhelm nach dem Tod der Eltern um sie gekümmert hatte. Jetzt war sie schon achtzehn Monate mit einem Mann verheiratet, der fast ihr Vater sein konnte und sie auch so behandelte. Manchmal fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen, denn Wilhelm wies sie ständig zurecht. Selbst wenn sie nur ein Liedchen trällerte, befahl er ihr barsch zu schweigen, weil sie, wie er sagte, keine schöne Stimme habe. Doch war sie nicht in ihrer Kindheit dafür gerühmt worden, wunderschön singen zu können? Meine kleine Nachtigall, hatte ihr Vater sie stets genannt.
Anna schluckte, damit ihr nicht die Tränen in die Augen
schossen. Sie räusperte sich und klopfte mit der rechten Hand leicht auf die Brust. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Stimme. Sie versuchte eine Melodie zu summen und versagte kläglich. Die Töne blieben ihr buchstäblich im Halse stecken. Seufzend sah sie wieder aus dem Fenster. Singen war ihre Leidenschaft. Sobald sie morgens die Augen aufmachte, verspürte sie Lust, ein Lied anzustimmen. Doch seit einigen Wochen schien es, als ob sie ihre Stimme verlieren würde. Oft kam nur ein Krächzen aus ihrer Kehle. Anna schüttelte den Kopf. Sicher würde sie eine Erkältung bekommen. Sie musste sich einen Sud mit Salbeiblättern aufgießen lassen.
Clemens ging hinaus zu den Stallungen. Hier waren die trächtigen Stuten untergebracht. Die Hengste, die Einjährigen und die Muttertiere mit ihren Fohlen hingegen standen auf den großen Koppeln am Ortsrand. Hätte die Entscheidung bei ihm gelegen, hätte er auch die bald fohlenden Pferde auf die Koppeln bringen lassen. Diese Ansicht hatte schon sein Vater vertreten, und Clemens hatte sie übernommen. Nur kranke
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