Das Hexenmal: Roman (German Edition)
Pferde kamen in den Stall. Bis zum Wintereinbruch hatte der Vater früher alle Pferde auf den Weiden gelassen. Auf der Koppel am Waldesrand hatten die Stuten beim Abfohlen genügend Platz und konnten sich hinlegen. Im Gegensatz zum Stall hatten sie dort ihre Ruhe und brachten so ihre Fohlen auf natürlichem Weg gesund zur Welt. War es doch einmal anders, dann sagte sein Vater nur: »Das ist das Leben, und da spielt auch der Tod eine Rolle.«
Zu Zeiten seines Großvaters Adalbert war es allerdings noch üblich gewesen, die tragenden Stuten in den Stall zu sperren. Clemens erinnerte sich, dass, als er noch ein Junge war, sein Vater und der Stallknecht abwechselnd drei Nächte bei einer wertvollen Stute im Stall wachten. Die beiden Männer ließen sie nie aus den Augen, schliefen sogar neben ihr im Stroh. Dann, als
sein Vater mitten in der Nacht zum Abort musste, kam in diesen Minuten das Fohlen zur Welt. Es schien, als ob die Mutterstute nur auf einen unbeobachteten Augenblick gewartet hätte. Clemens lachte leise, sich an das Gesicht des Vaters erinnernd, als er am nächsten Morgen völlig übermüdet davon berichtet hatte. Sein Vater meinte damals, dass er jetzt genug von den Gäulen habe und künftig alle auf der Koppel bleiben sollten. Schließlich würden sich die Zeiten ändern, und man müsse neue Wege gehen.
Bei diesen Erinnerungen strich sich Clemens wehmütig über das Gesicht. Zwei Jahre waren seine Eltern nun schon tot, und die neuen Zeiten nach ihrem Tod schnell zu Ende gegangen. Alte waren wieder angebrochen.
Helga und Martin Arnold waren unterwegs zu einer Familienfeier gewesen. Auf dem Weg dorthin wurden sie, wie man annahm, von Wegelagerern überfallen und ermordet. Man fand ihre Leichen erst zwei Tage später in einem schwer zugänglichem Waldstück. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Mörder schon über alle Berge, und die Suche nach ihnen blieb ohne Erfolg.
Es schien, als hätten die Arnolds ihren Tod vorausgesehen, denn nur einige Wochen zuvor hatten sie ihr Testament bei einem Notar hinterlegt. Dieser Notar hieß Wilhelm Münzbacher. Erst bei der Testamentseröffnung hatten die Geschwister ihn kennengelernt. Münzbacher hatte Anna in der Zeit der Trauer väterlich umsorgt, behutsam getröstet und klug beraten. Er war achtzehn Jahre älter als sie und wirkte wie ein Fels in der Brandung. Zumindest auf Anna.
Clemens hingegen empfand Münzbachers Besserwisserei als aufdringlich. Sein aufgesetzter gütiger Gesichtsausdruck ging ihm auf die Nerven. Zwar war Clemens anfangs froh gewesen,
dass der Notar sich um Anna kümmerte und ihn gegenüber der Schwester aus der Verantwortung genommen hatte. Clemens war zum Trösten unfähig, brauchte er doch selbst Zuspruch nach dem plötzlichen, gewaltsamen Tod der Eltern. Die Tage nach der Beerdigung waren mit seiner eigenen Trauer und dem Hass auf die Mörder ausgefüllt. Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde ihm bewusst, dass Münzbachers Mitgefühl gar nicht so selbstlos väterlich war und er vielmehr einen großen, eigennützigen Einfluss auf Anna ausübte. Doch da war es bereits zu spät gewesen, und seine Schwester hatte dem Werben des Notars nachgegeben und eingewilligt, ihn zu heiraten.
Nur sechs Monate nach dem Tod der Eltern gaben Anna Arnold und Wilhelm Münzbacher sich das Eheversprechen. Von diesem Augenblick an fühlte Clemens sich in seinem Elternhaus nur noch geduldet.
In kürzester Zeit hatte sich Münzbacher alles zu eigen gemacht, seine Kanzlei geschlossen und sich seine Position im Haus zurechtgerückt. Anna nahm ihn und seine Art stillschweigend hin. Sie war froh, dass jemand die Stellung ihres Vaters ausfüllte, auch wenn es sich dabei um ihren Gatten handelte.
Der Notar hatte sich schnell einen Überblick über die finanzielle Lage des Gestüts verschafft, was Clemens überraschte. Der Schwager wusste mehr über Ein- und Ausgaben als die Geschwister zusammen. Als Clemens mit Anna über seine Verwunderung sprach, meinte die Schwester nur, dass die Eltern ihn zu Lebzeiten sicher in Kenntnis gesetzt hatten.
Offensichtlich war jedoch, dass Münzbacher keine Ahnung von Pferden hatte. Als Clemens sich darüber lustig machte, verteidigte Anna ihren Mann und erklärte, dass er ein Mensch der Schrift und kein Bauer oder Pferdezüchter sei. Anfangs war der Schwager lernwillig und ließ sich gern von Clemens beraten. Wenn er aufmerksam zuhörte und immer wieder nachfragte,
genoss Clemens das Gefühl, mehr zu wissen als der
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