Das Hexenmal: Roman (German Edition)
Ortschaften auf dem Eichsfeld wie ein Lauffeuer verbreitet – und so auch dieses Mal in Duderstadt.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als sich Lambrecht eingestehen musste, dass er sich verirrt hatte. Schon längst hätte er rechter Hand die Lichter von Wehnde erblicken müssen. Aber in der Ferne tauchten nur links von ihm Lichter auf.
»Das darf doch nicht wahr sein, dass ich mich in meiner Heimatgegend verirrt habe! Ich kenne hier jeden Baum, und dann so etwas …«, schimpfte er leise mit sich selbst.
Er ließ das Pferd vorsichtig seinen Tritt auf dem dunklen Waldboden finden. Lambrecht versuchte ruhig zu bleiben und das Mädchen nicht zu ängstigen. Doch er spürte, dass, je dunkler der Wald wurde, Franziska sich umso fester gegen seinen Rücken presste.
›Lieber Herrgott‹, dachte er, ›welche Prüfung legst du mir jetzt auf?‹
Da er nicht wusste, welche Richtung er einschlagen sollte, überließ er es weiterhin seinem Pferd, den Weg zu bestimmen. Der Tag war der Nacht gewichen, und gespenstische Stille herrschte um sie herum. Nur ab und an hörte man ein Tier schreien oder Holz im Dickicht knacken. Lambrecht versuchte das Mädchen abzulenken: »Hast du den Westerturm in Duderstadt gesehen?«
»Ja«, flüsterte Franziska ängstlich.
»Hast du auch die verdrehte Turmspitze bemerkt?«
»Ja.«
»Weißt du, warum sie so aussieht?«
Als sie nichts erwiderte, fuhr Lamprecht fort: »Nun, dann will ich dich darüber aufklären. In Duderstadt brauen sehr viele Familien ihr eigenes Bier, weil die Männer viel und gern davon trinken – natürlich sehr zum Ärger ihrer Ehefrauen. Als die Frauen immer verdrießlicher wurden und die Männer ihre zänkischen Weiber nicht mehr ertragen konnten, sagten sie einfach, dass der Teufel sie zum Biertrinken verführe und sie sich nicht dagegen wehren könnten. Eines Tages mischte sich der Teufel tatsächlich
unter das Duderstädter Volk und wurde von einer der Frauen an seinem Pferdefuß erkannt. Sogleich rief sie alle anderen Weiber zusammen, die sich mit Mistgabeln, Dreschflegeln und anderen Schlagwerkzeugen bewaffneten und den Teufel durch die Stadt trieben. Dieser sah keinen anderen Ausweg, als sich ausgerechnet in die Sankt-Servatius-Kirche zu flüchten. Mit einem Satz sprang er auf die Kirchturmspitze, von wo aus er die keifende Frauenschar verhöhnte. Doch die Frauen folgten ihm, und so sprang er auf den Westerturm und verdrehte dabei dessen Spitze, damit sich Duderstadt auf ewig an ihn erinnere …«
»O je, hatten die Frauen denn keine Angst vor dem Teufel?«, war Franziskas verängstigte Stimme zu hören.
»Aber, Kindchen, das ist doch nur eine Geschichte, die ich, wenn ich ehrlich bin, auch noch ein wenig abgeändert habe. Einen Teufel in Menschengestalt gibt es doch gar nicht. Der Teufel existiert nur in den Köpfen der Menschen …«
»Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte Franziska.
»So sagen viele Gelehrte. Außerdem, hast du den Teufel je leibhaftig gesehen?« Franziska verneinte.
»Na siehst du, mein Kind. Glaube mir, gäbe es ihn tatsächlich, dann würde er den Menschen sicherlich oft erscheinen, um ihre Seelen zu verderben. Aber du musst keine Angst haben, der liebe Herrgott wacht über uns.«
Beruhigt schmiegte sich das Mädchen wieder an den Rücken des Pfarrers und hoffte inständig, dass er Recht hatte.
Immer noch hatte Lambrecht keine Vorstellung, wo im Ohmgebirge sie sich augenblicklich befanden, als er nach einer kleinen Anhöhe zwischen den Bäumen vor sich Wasser im Mondlicht glitzern sah.
Leise flüsterte Lambrecht Franziskas Namen. Als er keine Antwort bekam, war er beruhigt, denn das Mädchen war eingeschlafen. So musste sie sich wenigstens nicht weiter fürchten.
Zeitweise hörte man kurze Schreie in der Dunkelheit, die sogar das Pferd zu beunruhigen schienen. Immer wieder schnaubte oder tänzelte es nervös, und der Pfarrer sprach sanft mit ihm, um es zu beruhigen.
Plötzlich teilte sich der Wald, und Lambrecht konnte einzelne verlassene Häuser erkennen, an denen Efeu emporrankte. Manch eine Hauswand war eingestürzt und warf im Mondlicht bizarre Schatten.
›Die Lichter, die wir vor einer Weile gesehen haben, müssen zu Brehme gehören …‹, dachte er. ›Dann muss dies hier die Wüstung Wildungen sein.‹
Als er in der Dunkelheit einen Teich ausmachen konnte, an dem ein großer dunkler Schatten in die Höhe ragte, war er sich sicher. »Der Wildunger Teich mit seinem Turm – dem Herrn sei gedankt«,
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