Das Hiroshima-Tor
seinem ehemaligen Vorgesetzten im Hinausgehen fest in die Augen, länger als nötig.
»Wir sehen uns morgen früh«, sagte Rautio unten am Ausgang. Dann ging er zu seinem Wagen.
Der Nebel schien sich jederzeit zu Nieselregen verdichten zu können. Timo ging in Richtung Yrjönkatu und fragte sich, was
Rautio vorhatte.
An der Ecke Annankatu stand ein Taxi, das gerade einen Fahrgast abgesetzt hatte. Spontan beschleunigte Timo seinen Schritt.
Gleichzeitig blickte er sich um und sah Rautio in dessen Toyota steigen.
Die Taxifahrerin wollte gerade losfahren. Timo riss die Hintertür auf.
»Ich bin nicht frei ...«
»Sie bekommen zwanzig extra. Wir gucken unauffällig, wo der Toyota dort hinfährt.«
Misstrauisch warf die Fahrerin durch den Rückspiegel einen Blick auf Timo, sträubte sich aber nicht. Gekonnt ließ sie ein
paar andere Autos zwischen sich und den Toyota kommen, verkürzte den Abstand aber vor jeder Kreuzung wieder.
Ob Rautio merkte, dass ihm das Taxi folgte? Wohl kaum. Der Chef der SiPo war kein Profi in Sachen Feindaufklärung, sondern
ein Politiker mit juristischer Ausbildung, der durch sein Amt in den Gewässern politischer Rollenkonflikte lavieren |38| musste. Als die jetzige Präsidentin noch Ministerin gewesen war, hatte er für sie als Referent gearbeitet, die beiden kannten
sich also schon lange.
Im Stadtteil Töölö bog Rautio in die Arkadiankatu und gleich darauf in die Mechelinkatu ab. Damit bekam Timos Verdacht neue
Nahrung. Als es in die Paciuksenkatu und damit in Richtung Ufer ging, war alles klar. Rautio fuhr zur Villa Mäntyniemi: zum
Wohnsitz der Präsidentin.
Timo glaubte zu explodieren. Kannte die Frechheit dieser politischen Spieler eigentlich überhaupt keine Grenzen? Vor ihnen
bog der Toyota in die Seurasaarentie ab.
»Das reicht ...«, sagte Timo zur Fahrerin und räusperte sich nervös. »Wir drehen um.«
Natürlich war die SiPo die Polizei des Präsidenten, nach wie vor. Es gab Druck in Richtung parlamentarische Kontrolle, aber
ein Teil der politischen Elite wollte die Geheimpolizei weiterhin als Polizei des Staatsoberhaupts sehen. Wenn es aber einen
Grund gab, die Präsidentin der schweren Spionage zu verdächtigen, war es dann angebracht, sich als Erstes mit ihr selbst darüber
zu unterhalten?
Timo wurde kalt. War das »Landesbrauch«? Derselbe Brauch, in dessen Schatten auch all die schmutzige Wäsche der Finnlandisierungsperiode
ungewaschen blieb? Der Brauch, dem sein Vater geopfert worden war?
Paavo Nortamo hatte in den sechziger und siebziger Jahren für die SiPo gearbeitet, bis Alkohol und Gewalttätigkeit zu seinem
Rausschmiss geführt hatten, außerdem zur Scheidung und schließlich zu einem Totschlag, verübt in obskurer Gesellschaft von
anderen Trinkern. Dafür hatte Timos Vater fünf Jahre im Gefängnis gesessen.
Jedenfalls war das die offizielle Version gewesen. Nach der Scheidung seiner Eltern hatte Timo nicht mehr mit seinem Vater
gesprochen. Damals war er neun gewesen und mit seiner Mutter von Helsinki in deren Elternhaus nach Porvoo gezogen. Später,
in seinen eigenen SiPo-Jahren, war ihm aufgefallen, |39| dass die älteren Kollegen ihm mit Vorbehalt begegneten, ihn aber nie in eine peinliche Lage brachten, indem sie über Paavo
Nortamo sprachen. Dieses Thema war tabu gewesen – auch für Timo.
Timos Handy klingelte.
»Kannst du reden?«, fragte Välimäki.
»Ja.«
»Sie haben heute wieder in Olkiluoto zugeschlagen.«
»In welcher Form?«
»Haben Beton unbrauchbar gemacht. Haben verhindert, dass die Masse hart wird, indem sie Zucker hinzugefügt haben. Ein großer
Teil des Fundaments muss wieder rausgeholt werden.«
»Schon wieder Zucker«, fuhr Timo auf. »Was sind das denn für Süßstofffanatiker? Wo bist du?«
»Im Hauptquartier.«
»Ich komme. Bin in Helsinki.«
Timo steckte das Telefon ein und bat die Taxifahrerin, zur Ratukatu zurückzufahren. Sie sah ihn vielsagend durch den Spiegel
an.
Es war überraschend und Besorgnis erregend, dass es innerhalb so kurzer Zeit nun schon zum zweiten Mal gelungen war, in Olkiluoto
zuzuschlagen. Er wusste, es würde ihn einige Mühe kosten, seine Zunge im Zaum zu halten und nichts von den Dingen preiszugeben,
die mit der Präsidentin zu tun hatten.
Auf Dick Novak wirkte Paris von Stunde zu Stunde beklemmender. Er fuhr sich mit der Hand kurz über das hautfarbene Pflaster
auf der Stirn, während er sich im Zickzack einen Weg zwischen den
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