Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
 Uhr  30
    Die Verschwendung des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst bestimmt die Schlagzeilen. Gerade weilt er in Rom, erhielt am Vortag eine Audienz beim Papst. Zu den etwa dreihundert afrikanischen Flüchtlingen, die Anfang Oktober vor Lampedusa tot geborgen wurden, fehlt von Angela Merkel bis heute jedes Wort.
    Die konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestags, so teilt die Akkreditierungsstelle mit, sei ein Publikumsmagnet. Auch Journalisten brauchten eine Sonderzulassung, der Ansturm sei groß, sogar Stehplätze sind vorgesehen. Aber so richtig weiß ich nicht, warum, geht es doch eigentlich bloß um eine große Feierlichkeit, die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreterinnen und Stellvertreter. Doch zeitig strömen die Kamerateams mit ihren Stativen heran, die Polizei baut sich zu größeren Verbänden auf.
    Ich bin zu früh, sitze zum ersten Mal ganz allein in dem Saal, an dessen Flanken Wahlkabinen errichtet wurden. Das Licht summt, der Raum ist ohne Zeit, er ist Arbeitsraum oder Transithalle mit einem Adler als metallisch schimmernder Monstrosität, einem archaischen Zeichen der Repräsentation und Beschwörung. Nach einer halben Stunde kommt ein Beamter und sagt mir, dass ich noch gar nicht hätte Einlass finden dürfen. Also habe ich es heute verbotenerweise bis ins Parlament geschafft.
    In der Cafeteria dominiert die Stimme eines Mannes, der seinen Cappuccino laut bestellt, betont, dass er etwas lesen müsse, es abermals betont, bis ich aufblicke, um nachzusehen, wer so raumgreifend spricht. Es ist Thomas de Maizière. Ihn hatte ich mir immer leise vorgestellt. Auch Peter Altmaier stärkt sich vor der Sitzung, lesend an einem Einzeltisch im Winkel. Auf den beiden Fernsehmonitoren über der Theke stimmen sich die Moderatoren gleichzeitig auf die Eröffnung des Bundestags und auf die Champions-League-Partie Schalke gegen Chelsea am Abend ein. Man sieht Reporter auf der Wiese vor dem Reichstag stehen oder im Vestibül der Plenarsaalebene, wo später die Abgeordneten nur noch von Team zu Team zu schreiten brauchen.
    Eine halbe Stunde vor Sitzungsbeginn füllt sich das Plenum. Die »Neuen« lassen unverhohlen staunend die Blicke wandern. Die klösterliche Welt kannte das »parlamentum« als das Tischgespräch, ein Genre der Glaubensliteratur. Aber auch in anderen Kulturen gibt es Vorformen des Parlamentarischen. Beim Stamm der Dogon in Mali zeigte man mir einmal ein halbhohes Podest, offen nach allen Seiten, aber von einem Dach in gut einem Meter Höhe bedeckt. Darunter nahm die Gemeindeversammlung der Alten Platz und beratschlagte bis zum Ergebnis. Warum das Dach so tief angebracht sei, wollte ich wissen. Damit sich die Beteiligten, wenn sie im Zorn aufspringen sollten, die Köpfe stießen, war die Antwort. Auch das war funktionale parlamentarische Architektur.
    631  Abgeordnete zählt das neue Parlament, darunter weniger Männer und mehr Frauen und vor allem weit mehr Junge als je zuvor. Bismarck zufolge sollte der Reichstag eine »Fotografie« der deutschen Nation sein. Das ist er auch dieses Mal nicht, auch fehlt jene Farbe, die ehemals die Fraktionslosen ins Parlament brachten. Die neuen Abgeordneten, immerhin 229 , erhalten Hilfe von den Veteranen. Manche der Neuen sind kühn genug, einen Platz mit Tisch zu beanspruchen. Die Mehrheit bescheidet sich mit einfachen Sitzen in den hinteren Reihen. Während die Journalisten noch über das Fehlen der FDP witzeln, haben neue Parlamentarier begonnen, sich gegenseitig zu fotografieren. Auf der Ehrentribüne nehmen »Ehemalige« wie Rita Süßmuth, Hermann-Otto Solms, Wolfgang Thierse und Egon Bahr Platz. Man erkennt offene Wiedersehensfreude, Umarmungen. Auf den Besucherrängen sind heute keine Senioren, keine Schulklassen zu sehen. An ihrer Stelle adeln die Zeremonie Bundespräsident Gauck, Ex-Bundespräsident Köhler, Bundesverfassungsgerichtspräsident Voßkuhle und DGB -Vorsitzender Sommer durch ihre Anwesenheit.
    Im Plenum werden grüppchenweise offenbar kleine Koalitionsgespräche fortgesetzt: Merkel mit Pofalla, Gabriel, Steinmeier, Nahles und Oppermann. Das emotionale Zentrum aber ist Claudia Roth. Immer liegt irgendeine Hand auf ihrer Schulter oder um ihre Taille, dauernd löst sie sich aus einer Umarmung und gleitet in die nächste. Die Tafel sagt: » 1 . Sitzung des Deutschen Bundestages«. Neben Reden sind auch die Wahlen des Bundestagspräsidiums zu erwarten, mit Claudia Roth als Kandidatin für das Amt der

Weitere Kostenlose Bücher