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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Sozialdemokratie gehören keine Kriege, keine Rentenkürzungen und kein Hartz  IV . Das müssen Sie endlich verstehen.«
    Tatsächlich, liest man das »Godesberger Programm« der SPD von 1959 heute, es taugte zum Programm der Linken. Was also müsste vor diesem Hintergrund Linie der Grünen sein, wenn nicht eine Radikalisierung des pazifistischen und ökologischen Ansatzes? Doch Katrin Göring-Eckardt ( B   90 / DIE GRÜNEN ) hebt noch einmal auf einer Höhenlinie der Erregung an, die Kanzlerin auf die Steinbrück-Art zu attackieren: Sie handele nicht, ihre Partei habe keine Ideen und sei handwerklich inkompetent, schließlich: »Sie sind dabei, das Land müde zu lächeln, Frau Merkel!« Niemand lächelt, die Reihen leeren sich trotzdem.
    Dann wünscht sich Göring-Eckardt, »dass unsere Enkel Zitronenfalter nicht nur aus dem Lehrbuch kennen«, und schließlich erwidert sie Brüderle: »Lieber einmal in der Woche freiwillig Spinat mit Ei als jahrelang unfreiwillige Überwachung durch die NSA .« Das ist ein bisschen irre, obendrein aber klingt es wie aus der tiefen, sentimentalen Vergangenheit des grünen Fundamentalismus, überwölbt von einem Überbau aus SPD . Während man ihr unten gratuliert wie zu einer großen Rede, verständigt man sich oben auf der Tribüne, von dieser Rede blieben zwei Dinge: Spinat mit Ei und Zitronenfalter.
    Die Kür geht weiter. Die Wogen des Wahlkampfs schlagen noch einmal über allen Köpfen zusammen, reißen die Redner mit, aber selten die Hörer. Dann laufen die Truppen ineinander, und man verliert die Einzelpersonen wie in einem japanischen Schlachtenfilm. Ich packe meine Sachen und finde, es reicht mit dieser Legislaturperiode und der Aufmerksamkeit, die sie dem Bürger abverlangt. Der Taxifahrer lauscht einer Übertragung der Debatte, die ich gerade verlassen habe. Eben singt Andrea Nahles das Pipi-Langstrumpf-Lied: »Ich mach mir die Welt, widdewiddewie sie mir gefällt …« Die Würde des Menschen mag unantastbar sein, die des Hohen Hauses ist es nicht. Die Wahl kann kommen. Es ist Zeit.

Sonntag, 22 . September, Wahltag
    Zu diesem Abend hin hat sich eine unsachliche Spannung aufgebaut. Nicht mit politischen Zielen, knappen Mehrheitsverhältnissen, Weichenstellungen in essentiellen Lebensfragen hat sie zu tun, sondern eher mit den literarischen Charakteren der Protagonisten, mit konkurrierenden Medien und jenem Moment von »Suspense«, das man aus den meisten Entscheidungssituationen gewinnen kann, wenn man sie wohlinszeniert und von großem Publikum begleiten lässt. Man müsse wählen, wird gefordert, als wolle man sagen: Hier spielt die Musik! Man sagt nicht: Erwerben Sie die Kenntnisse, die eine Wahl erst zu einer solchen machen, man sagt: Kreuzen Sie nur ja irgendetwas an, und erwerben Sie so das Prädikat »mündig«.
    Die Demokratie entstand im fünften Jahrhundert vor Christus in griechischen Stadtstaaten wie Athen als Idee der Selbstregierung des Volkes. Erst die italienische Renaissance hat die Idee wieder aufgegriffen, ehe die Revolutionen in England, den USA und Frankreich dann die moderne Staatsauffassung festigten, fußend auf Gewaltenteilung und Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte. Schon die Griechen aber hatten die Abstimmung als ein Legitimationsverfahren für Entscheidungen erfunden. Aus Enttäuschung über den Niedergang des Personals, den moralischen Verfall, wie er sich in der Verurteilung des Sokrates verriet, votierte Platon schließlich gegen die Demokratie und für einen »Wächterstaat«, also die Herrschaft der Fachleute. Großen Teilen des Volkes wurde aber schon vorher keine Mitbestimmung zugestanden. Auch der Republikanismus, wie er noch von Rousseau vertreten wurde, schloss etwa Arme und Frauen aus. Der Weg zur freien, allgemeinen und geheimen Wahl war weit.
    Wenn sich Wählerinnen und Wähler heute selbst ausschließen, wird ihnen das öffentlich gern als »Politikverdrossenheit« angelastet, kann aber auch bedeuten: Für den Einzelnen findet Politik oft nicht da statt, wo der Politiker es gerne hätte. Da dieser Bürger in vielem, was ihm das Fernsehbild aus politischen Debatten vermittelt, seine eigene Wirklichkeit nicht erkennt, setzt er eine vermeintlich wirklichere Wirklichkeit dagegen und sagt: Die da oben wissen nichts von uns, kümmern sich nicht, leben entfremdet vom Volk, bereichern sich … Im Wahlkampf organisiert die Demokratie auch den Wettbewerb um die Realität des Volkes.
    So blicken die Wählerinnen und Wähler an

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