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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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diesem Wahlabend zurück und können, überfrachtet von Informationen, Bildern, Stimmungen, Prognosen zumindest sagen: Für kurze Zeit ist die Politik gewesen, wie man sie sich wünscht: voller Empfänglichkeit und Teilhabe, voller Zusagen, Heilsbotschaften, Sinn. Für eine Zeitlang wechselte die Realität in den Modus des Konjunktivs. Was Realpolitik gewesen war, wurde Versprechen, und auch wenn diese Versprechen nicht geglaubt werden, schaffen sie doch ein Klima, in dem Menschen »Freiheit«, »Frieden«, »Fortschritt« oder gleich »Zukunft« als etwas Verhandelbares, Steigerbares, also zumindest Erfahrbares erleben. Mit dem Akt der Wahl treten Bürger vermeintlich in diese Zone der schönen Aussichten ein und entscheiden nun zwar nicht notwendigerweise gemäß den eigenen Interessen, sondern auch nach Kalkül, doch zumindest ist ihre Anhänglichkeit an das politische System, in dem sie leben, nie so stark wie zu dieser Zeit.
    Bei einer leicht gestiegenen Wahlbeteiligung von 71 , 5  % errangen diesmal CDU   34 , 1  %, CSU   7 , 4  %, SPD   25 , 7  %, DIE   LINKE   8 , 6  %, BÜNDNIS   90 / DIE   GRÜNEN   8 , 4  %, FDP   4 , 8  %, AfD  4 , 7  %, Sonstige  6 , 2  %. Wenn Wahlergebnisse keine klaren Mehrheiten hervorbringen, sagen die Kandidaten: Das Volk ist unregierbar. Das hat etwas vom süßen Hauch der Anarchie, heißt aber nur: Die Regierung wird Wege finden, das Volk abzusetzen, und sei es nur, indem die rot-rot-grüne Mehrheit gleich ausgeschlossen und trotzdem vom »Wählerauftrag« gefloskelt wird.
    Dass der Fast-Gewinn der absoluten Mehrheit für die CDU / CSU dabei kein Triumph ist, sieht man am Wahlabend vor allem der Kanzlerin an, die in einer Großen Koalition auch um die Einschränkung der eigenen Kräfte weiß. So war das markanteste Bild dieses Wahlabends, das sympathischste zumal, das der Kanzlerin, die, in der Stunde des Sieges mit Mitgliedern des Präsidiums auf der Parteibühne stehend, Hermann Gröhe das papierne Deutschland-Fähnchen aus der zu allem Wedeln entschlossenen Hand nimmt, es weglegt, dabei missbilligend, ja indigniert den Kopf schüttelt. Kein nationaler Rausch, bitte! Die Partei mag gewonnen haben, aber das Land?
    Die Schlappe der SPD führt zunächst zu Bedenken der Partei gegen den Eintritt in eine Große Koalition, die Verluste der Grünen führen zu Rücktritten, Neubesetzungen, halbherzigen Personalrochaden. Die Linke hat zwar ebenfalls verloren, ist aber größte Oppositionspartei. Das Ergebnis legt nahe, dass in den nächsten Jahrzehnten keine Regierung ohne CDU -Beteiligung denkbar scheint. Insofern wurde mit der Wahl nicht allein durch den Fortfall der FDP , sondern auch durch die kleinste Opposition aller Zeiten eine historische Wende vollzogen.
    Die vergleichsweise junge Errungenschaft, wählen zu dürfen, wer einen regiert, wurde an diesem Wahltag am wenigsten von der Gruppe der Erst- und Jungwähler in Anspruch genommen. Auf dieser Seite des Spektrums macht sich ein Realismus breit, der die Funktion der Legislative betrifft. Stimmkraft und Kaufkraft stehen im Missverhältnis, die Erstere wiegt einfach weniger. Die vermeintliche »Krise des Parlaments« ist also lesbar auch als Ernüchterung angesichts der zahlreichen bestehenden Entscheidungsagenturen wie etwa des Europäischen Parlaments, des Marktes, der Medien etc. Da ist eine inszenierte Politik, die den Streit zwischen rivalisierenden Gruppen organisiert und ihre Legitimation aus dem Akt der Wahl bezieht. Das Volk der Wählerinnen und Wähler aber benennt in der Wahl seine Repräsentanten, um ihnen nach der Wahl zu sagen, dass es sich nicht repräsentiert fühlt.
    Nach der Wahl setzt erst einmal das große Zurechtruckeln ein. Die Neuankömmlinge müssen ihre Position finden. Posten im Parlament, in Fraktionen, Ausschüssen und Arbeitsgruppen werden verteilt. Man kann Vorsitzender, Sprecher, Staatssekretär, Minister werden. Wer von Idealen getrieben ist, bekommt jetzt seine Möglichkeit, sie in Funktionen zu übersetzen. Dabei muss man sich vergegenwärtigen: Die wenigsten intern zu vergebenden Positionen werden durch Wahl bestimmt. Die meisten werden zugeteilt. Was kommt, sind also Wochen »hinter den Kulissen«, Wochen der Sondierungsgespräche, Koalitionsverhandlungen, Findungskommissionen und Personalfragen. Inzwischen regiert die alte Regierung als geschäftsführende Regierung weiter und hat die erste parlamentarische Sitzungswoche schon mal abgesagt.

Dienstag, 22 . Oktober, 8

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