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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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dem die Löhne steigen, die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, alle ein Auskommen haben und im Heimatroman leben. Es ist ein anderes Deutschland. Merkel sitzt wieder da im moosgrünen Jäckchen, einen geschlossenen Ordner vor sich, die Hände betend, dann wie am Tresen, einen geflüsterten Einwurf von Rösler ohne Mimik beantwortend. Solms hat Peer Steinbrück eben der »doppelten Moral« und der »absoluten Dummheit« bezichtigt. Er hat ihn außerdem den »Schutzpatron der Steuerhinterzieher« genannt. Aber da man das nicht glaubt, glaubt man ihm sein Deutschland?
    Merkel zieht eine rote Tasche mit Henkeln heran, als handele es sich um ein angeleintes Tier, lacht noch rasch mit dem Gesundheitsminister, dann holt sie sich mit einem Nicken Volker Kauder herbei für ein Tête-à-tête in den hinteren Reihen. Die Redner der Grünen und der Linken wenden sich der »Würde« des Erwerbslosen zu. Jemand referiert über ein Kinderkrankenhaus in Griechenland mit Depressiven und Suizidfällen und schraubt sich empor zu dem Satz: »Insofern zieht die deutsche Politik mittlerweile mindestens durch Südeuropa eine breite Blutspur.« Das Kabinett ist fast vollzählig da. Aber nur von der Leyen, Schäuble und Rösler hören zu. Es haben sich in der ersten Tribünenreihe viele Fotografen postiert, die das, was eben zu sehen war, jetzt auf ihren Displays in Einzelbilder zerlegen – die Wirklichkeit eingefroren, aus dem Verlauf gerissen. Alle Bilder ein Déjà-vu, keines allein gegenwärtig, keines die Bebilderung einer »Blutspur«.
    Es ist an Nadine Schön ( CDU / CSU ), das Land wieder aus dem Anthrazit der Vorredner zu befreien. Diese junge zarte Blonde liest bemüht ab. »Hinter all den abstrakten Zahlen (…) stehen Menschen, hinter all den Zahlen und Diagrammen steht eine Botschaft«: Seit diese Koalition regiere, gehe es den Menschen besser. Die Zwischenrufe sind so laut, dass man die Rednerin kaum versteht. Auch ich erinnere mich, dass der Paritätische Gesamtverband soeben ein »Rekordhoch« in der Armutsstatistik vermeldet hat, aber die Tribüne wird gestreichelt von Wendungen wie »ihre Wünsche, ihre Träume erfüllen«, »fleißige Menschen«, »Zukunft gestalten«.
    Das Hohnlachen der Zwischenrufer wird grausam, sie haben die Schweißfährte der Angst aufgenommen. Doch Nadine Schön ist schon bei dem »Rentner, der dem Nachbarn den Rasen mäht«, dem »Studenten, der einen Job annimmt«. Sie trägt das vor wie einen Schulaufsatz, wie zur Tafel geholt, die Anwältin von Gemeinsinn und Gemeinplatz. Doch warum sind diese Ideale offenbar nie aussprechbar ohne das spießige Glück, den Familienkitsch, über dem der Wohlstand wacht? »Wir sind das Land der Ideen, und wir wollen, dass aus diesen Ideen Produkte werden, dass aus den Ideen Wertschöpfung wird.« Doch, es existiert, das Rührende im Parlament, es verkörpert sich in Personen. Ideen aber denkt es am liebsten im Zusammenhang mit »Wertschöpfung«.
    Die verbreitete Form der konservativen Rede ist jene, die das Leben für seine Tagesform lobt, schönsieht, Erfolge, Zuwachs verzeichnet und von jedem Umstand einen Weg zu den eigenen Verdiensten findet. Die seltenere ist jene, die die Einbußen und Verluste, die Notlagen und Desaster verneint, bagatellisiert oder veralbert. Diese Rolle fällt in der heutigen Debatte Martin Lindner ( FDP ) zu. Es gebe eine Armutsdefinition, sagt er, die dafür sorge, dass es niemals keine Armut gebe. Der Reichtum steige in der Breite, und deshalb rutschten andere eben in die sogenannte Armut. Armutsgefährdung wird von ihm als polemische Erweiterung des Armutsbegriffs verstanden, wozu CDU / CSU und FDP geschlossen klatschen. »Es gibt in Deutschland eine Zunahme an Armutsberichten«, ruft Lindner, »aber keine Zunahme an Armut.«
    Es sind diese Momente, diese Sätze, diese Applauswellen, in denen das Parlament aufhört, Volksvertretung zu sein. Denn wie immer man Armut erklärt, wen immer man verantwortlich macht – sie zu leugnen zeugt von Verachtung und richtet das Gemeinschaftspathos, das rhetorisch so gern beschworen wird. Man muss diesen Moment einmal isolieren, in dem man drei Parteien geschlossen einem Satz applaudieren sieht, der nur als Verleugnung der Realität großer Teile der Bevölkerung verstanden werden kann und sich der Zustimmung einer Mehrheit im Plenum erfreut. Es gibt Momente, in denen man dem Parlament die Verachtung zurückgeben möchte, mit der es seine Bürger bisweilen

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