Das Hohe Haus
Geräuschpegel an. Aber das Plenum gibt sich gar keine Mühe mehr, die Stimmen zu dämpfen. Die Rednerin ist nun auf der Tribüne kaum noch zu verstehen. Präsident Solms blättert, liest und bemerkt es nicht. Da kapituliert auch die Rednerin, bringt bloß noch lesend ihren Text zu Ende. Ihren Worten zur Kultur, so gut sie sind, fehlt jetzt der Resonanzboden, weil die Gedanken nicht stark genug sind, die Geräuschwand zu durchbrechen. Das Parlament ist eben auf Klassenfahrt.
Schließlich werden zahllose Reden zu Protokoll gegeben, Gesetzesentwürfe, Änderungsanträge, Entschließungsanträge wirbeln durch den Raum. Atemlos, Punkt für Punkt, wird das nur noch abgelehnt oder angenommen. Die paar, die jetzt noch im Plenum sitzen, haben in kurzer Zeit mühelos zwanzig Beschlussempfehlungen bearbeitet, einmal den Antrag »Lieferung von U-Booten an Israel stoppen«, einmal »Ringen vor dem Ausschluss aus dem Olympischen Wettbewerb bewahren«. Es ist ein Marathon des Durchwinkens. Die Tribüne ist längst abgehängt, macht aber alles mit, dem Nimbus des Hauses erliegend.
Mittwoch, 12 . Juni, 13 Uhr
Walter Jens ist tot, die ehemalige »Ein-Mann-Opposition« lebte schon lange verdunkelt. In Istanbul räumt Erdoğan den Taksim-Platz von den Protestierenden. Griechenland schließt seine staatliche Rundfunkanstalt. In Lauenburg erreicht die Flut den Höchststand. Im NSU -Prozess tauchen ein weinender Zeuge und eine neue Straftat auf. Mehr Menschen denn je gehen wegen psychischer Probleme in Frührente. Im Süden fällt schon wieder Regen.
Im Reichstag trübt sich das Licht ein. Der Saal ist fast leer. Offenbar sind nur die da, die »Abstimmungspräsenz« haben, das heißt, die anwesend sein müssen, um für die Partei zu stimmen. Auch wenn die Debatte erst zehn Minuten läuft, wirkt sie abgehalftert. Volker Beck schreitet die Fraktionsvorsitzenden ab, die immer gebräunte, gegerbte Schönheit von der CDU schickt ihm ein trillerndes Winken.
Auf den Tribünen sind selbst Greisinnen heute in Blassgrün erschienen, sie stützen sich noch im Sitzen auf ihren Stock. Die erste erhebt sich schon. Was aus dieser Debatte empört sie? Ist es der Verbraucherschutz, der Krieg in Mali? Sie erhebt sich mühsam, der Fuß findet kaum die Stufen, die Hand kaum das Geländer. Gerade sucht sie den Arm der nächsten Greisin, da strafft sie die Empörung über etwas, das sie gerade hört.
Heute habe ich mir ein Fernrohr mitgenommen. Wenn die Kameras und die Teleobjektive zoomen dürfen, dann will ich auch schärfer sehen. Aber es hilft nichts: Das Öffentliche schützt das Heimliche. Da reden Menschen vor sich hin, schon in der Live-Situation scheint keiner zuzuhören. Es handelt sich um den letzten Entwicklungsstand einer Institution, um die mit dem Leben gekämpft wurde. Etwas begann barbusig auf den Barrikaden und endet mit Motivkrawatte im Ausschuss.
Der Mensch, der jetzt eintritt und sich ein ganzes Bild machen will, staunt über das, was plausible Regeln und ihre Übertretungen aus dem Parlament gemacht haben. Ist dies nicht auch das Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee? Oder hänge ich bloß der altmodischen Vorstellung eines Plenums an, in dem sich die Interessen aller wiederfinden sollen, das Mehrheiten organisiert, in großen Perspektiven denkt und entscheidet, also lauter romantischer Kram, dem das reale Parlament nur noch entfernt verbunden ist? Doch kann man tatenlos zusehen, wie es sich selbst beschädigt? Wäre nicht auch die Kritik dessen, was das Parlament heute ist, Sache des Volkes?
Als ich hereinkomme in die »Befragung der Bundesregierung« zur »Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie«, freut sich die Schulklasse auf der Tribüne gerade über die Auskunft mit dem Wortlaut: »Wir wollen Verkehr, in jeder Form.« Wir auch, lachen die Gesichter. Die »Aktuelle Stunde zur Lage in der Türkei« ist dann eine Lehrstunde der Diplomatie in allen Teilen: Westerwelle fordert auf, »dem Ernst der Lage mit großer Ernsthaftigkeit in der Debatte« zu begegnen. Er kritisiert das türkische Regime und variiert drei Sprechakte: »wir verurteilen«, »wir müssen besonnen reagieren«, »ich erwarte«. Dass die Gewalt ein Ende haben, dass den Demonstranten ihr Recht eingeräumt werden müsse, das wiederholen dann alle, damit alle es gesagt haben werden. Der Adressat dieser Rede sitzt nicht in Ankara, so klingt es nur, der Adressat ist die Weltordnung des Weißen Rauschens.
Den folgenden Rednern fehlt es dabei nicht an
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