Das Hohe Haus
Anmaßung. Johannes Kahrs ( SPD ) proklamiert stereotyp, die Türkei werde sich ändern müssen und Merkel auch, bei Ruprecht Polenz ( CDU / CSU ) ist »die Türkei aufgefordert«. Westerwelle sitzt jetzt tief in seinen Sessel gedrückt, wischt sich erst die Augen, dann die Brille. Erst Sevim Dağdelen ( DIE LINKE ) lässt die Diplomatie hinter sich, war sie doch letzte Woche noch in der Türkei und weiß zu berichten vom »islamistischen Unterdrückungsstaat«, von der Beleidigung der Demonstranten durch europäische Außen- und Rüstungspolitik.
Auch Claudia Roth ( B 90 / DIE GRÜNEN ), heute unbunt mit Lederjacke, spricht mit der Emphase der Beteiligten, die keine Empathie simulieren muss. Ihre Nähe zu den Demonstranten ist fraglos. Sie redet durch, wie um sich gegen wohlfeilen Gesinnungsapplaus zu verwahren. Währenddessen haben sich die Kameras vermehrt, jetzt sind auch türkische Fernsehsender im Saal. Der Dissens um Fortsetzung oder Abbruch der Aufnahmegespräche mit der EU führt zur Schreierei im Plenum. Leidenschaftlich aber fordert Roth vor allem die Unterstützung der Demokraten in der Türkei. Schon Hans-Werner Ehrenberg ( FDP ) aber vereinnahmt sie und weiß: »Letztendlich sind die Demonstrationen ein Schrei nach Europa.« Westerwelle hört dem Parteifreund nicht zu. Der Applaus fällt denn auch so schwach aus, dass der Mann neben mir weiterschlafen kann. Er ist in seiner graubraunen Pyjama-Montur einfach zusammengesackt, und sein Ausatmen verströmt schon den Geruch des Schlafes.
Der CDU / CSU -Mann Thomas Silberhorn, ein Konfirmand mit blauem Schlips, wiederholt die Fakten und redet flüssig über den Kopf Erdoğans hinweg. Der CDU bieten die Demonstrationen in Istanbul eine Möglichkeit, vor dem Eintreten der Türkei in den EU -Prozess zu warnen, die »nötige Distanz« zu wahren, die türkische Regierung »nicht auch noch belohnen«. Ohne den geringsten Selbstzweifel werden die Segnungen des Westens zur Verheißung für die Türkei erklärt, die Demonstranten immer weiter interpretiert und vereinnahmt. Christian Ströbele geht. Er geht schwer, hat die offene Aktentasche unter dem Arm, verschwindet auf den Fluren. Der Besucher neben mir schnarcht. Die Umsitzenden lachen, verständigen sich mit Blicken. Gunther Krichbaum ( CDU / CSU ) wagt eben das Bonmot: »Erdoğan macht Politik als Machtpolitik.« Seine Miene ist geeignet, diese Nachricht so zu skandalisieren, als verrate sich die tiefe Fremdheit der Türkei auch an diesem Verständnis des Politischen.
In den kommenden Auslassungen schwemmt der Redefluss mal »die schrecklichen Bilder« vom Taksim-Platz vorbei, die »nicht akzeptabel« sind, mal ist jemand unmotiviert »zuversichtlich«. Ein anderer weiß etwas von »Rechten und Pflichten« und will »die Tür nicht zuschlagen«, ein Dritter liest seine Rede wie ein Märchen am Bettrand. Mein Nachbar im Pyjama aber ist unter dem schulterlangen grauen Haar nach kurzem Hochschrecken wieder eingenickt. Man weckt ihn, es ist Zeit aufzubrechen. Sein Blick taucht aus dem Schlaf. Dann gibt die Trägheit des Auges preis, wo er ist, und gleich ermüdet er wieder wie im Reflex. Im Plenum herrscht um diese Zeit Kaffeeklatsch-Atmosphäre.
Donnerstag, 13 . Juni, 9 Uhr 02
Die Polizei hat in Istanbul Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt. Der Chef der NSA verteidigt seine Abhörmaßnahmen und attackiert Whistleblower Edward Snowden. Im Hohen Haus erinnert man zum sechzigsten Geburtstag des Bundesvertriebenengesetzes an die Opfer der Vertreibung.
Rund 13 000 Reden werden in einer Legislaturperiode gehalten. Sie alle bilden mit der Zeit Genres, ähneln einander, klingen haltbar gemacht. Dass die Unterschiede der Positionen, der Artikulationsformen, der Weltbilder unter den Abgeordneten nicht größer sind, erstaunt vor allem bei einem Blick in ihre Biographien und regionalen Hintergründe. Müsste diese reale Vielfalt nicht zu einer höheren Differenzierung der Positionen führen? Aber die Monopole bestimmter Berufe, Altersgruppen und ideologischer Passepartouts reduzieren diese Vielfalt, und manchmal fühlt man sich einer parlamentarischen Monokultur gegenüber.
Auch die Gedenkrede musste unweigerlich Genre werden und variiert die Beobachtung Goethes: »Der Deutsche wird schwer über allem, und alles wird schwer über ihm.« Dieser Satz gehört zu denen von zeitloser Richtigkeit, und ich werde nicht vergessen, wie mir der Komponist Norbert Glanzberg, ein Flüchtling vor dem Dritten
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