Das Hohe Haus
Dann ist da ein Überhang des Individuellen, jemand, der um sich ringt, vernachlässigt, unterschätzt wurde. Gerne stünde da vielleicht nur ein Gedanke am Pult. Der Mensch dazu aber hat keinen Humor und eine schmale Oberlippe. Warum sollte sein Gedanke weniger richtig sein?
Es ist jetzt nach 18 Uhr, das Licht scheint milder, und die Stimmung ist ebenso. Einige der Redner, die nun ans Pult treten, stehen dort zum letzten Mal, weil sie nicht mehr kandidieren werden. Sie absolvieren ihren Auftrag und biegen dann in persönliche Geschichten ein oder versuchen wenigstens, in all diesen Abschieden persönlich zu werden. »Denken Sie auch an sich, an Ihre Gesundheit, an Ihre Gefühle, an Liebe und Hoffnung«, wünscht Silvia Schmidt ( SPD ), die nach sechzehn Jahren Behindertenpolitik mit den Worten schließt: »Übrigens, Gott segne Sie alle!«
Unweigerlich kann man hier erkennen, wer im Umgang mit sich selbst unbeholfen, in Gefühlsdingen ungelenk oder schamhaft ist, wen seine Partei, seine Fraktion, das ganze Haus respektierte, mochte oder verehrte, und so tut sich zuletzt im Politischen Persönliches auf. Anton Schaaf ( SPD ) beginnt seine Rede kämpferisch, mit der tragenden Stimme extemporiert er wie ein Halbstarker, doch überzeugend. In seinem Abschied spricht er die Abgeordneten mit »Ihr« an, dankt, sagt einem: »Du bist in deiner Jugend in schlechte Kreise geraten«, und meint die CDU , sagt auch, dass er »Freunde fürs Leben« gefunden habe in diesem Bundestag, muss bei der Nennung seiner beiden Mitarbeiterinnen sogar stocken, weil ihm die Tränen kommen, fängt sich aber schnell wieder.
Der Nächste am Pult, Heinrich L. Kolb ( FDP ), widmet seine Rede ganz dem Vorredner. Eine erstaunliche, aber sympathische Nutzung des Parlaments für das Sentimentale ist das. Anschließend geht »der Toni«, wie er immer wieder genannt wird, zum FDP -Mann und umarmt ihn vor dem gesamten Plenum, gefolgt von Abgeordneten aller Fraktionen, die den offensichtlich von allen geschätzten Mann so lange umarmen, bis er schnellen Schrittes von dannen zieht. Es schadet dem Parlament nicht, sich so zu zeigen.
Freitag, 7 . Juni, 9 Uhr
Über Nacht kommt immer mehr ans Licht über die Abhör-Initiativen der US -amerikanischen Regierung. Putin und seine Frau trennen sich. Man sorgt sich um die steigenden Pegelstände des Hochwassers. Die Sonne gleißt im Metall der Kuppel und liegt sattgelb auf den Sandsteinmauern. Als ein Unding erscheint mir dieser Plenarsaal heute, in den Details ein architektonischer Bastard aus alten Elementen, die wie Stelen aus der archäologischen Vergangenheit aufragen, und dem modernen Baumarkt mit Stellwänden, praktischen Vorrichtungen und dem uncharismatischen Blau von Intercity-Polstern. Also gut, wenn man es schon nicht schön finden kann, muss man es bedeutend finden, so wie ja auch eine Mitra einem Kaffeewärmer ähnlicher ist, als es dem geweihten Kopf und dem Kaffeewärmer lieb sein kann.
Ich schaue mir die Menschen auf den Tribünen an, diesmal Amtsträger, Funktionäre, Repräsentanten. Und wenn es eine kleine Gruppe von solchen gäbe, die die Geschicke eigentlich leiteten? Eine Handvoll Parlamentarier, aber auch Medienleute und Wirtschaftsvertreter, die alles unter sich ausmachen? Wenn also einige hier säßen voller Ironie gegenüber den hart Arbeitenden, Überzeugten, den Enthusiasten des Gesetzes? Eine Institution besteht ja immer auch aus den Dingen, die man nicht an ihr sieht, nicht versteht, nicht erkennen soll.
Ich schaue ins Plenum: Manche haben mit dem Eintritt in das Parlament das Ende ihres Ehrgeizes erreicht. Sie werden nicht mehr werden als dies, Abgeordnete mit einem eingeschränkten Bewegungsspielraum zwischen den Entscheidungen. »An einer vollendeten Tatsache ist nichts so vergänglich wie ihr Wunderbares«, schrieb Joseph Conrad. Das erfahren sie nun, befinden sich in einer Art Wirkungsillusion. Die Insignien der Macht sind alle da, der Fuhrpark, die Fahnen, die Büros, das bedienstete Personal, aber »bewirken«? Sie haben Reden gehalten, großzügigen Gebrauch vom Begriff »Verantwortung« gemacht, und auch das Stolz-Sein spielt in ihren Worten eine tragende Rolle. Nun aber haben sie ein Gesicht, erschöpft vom Ankommen.
Ich folge der Vorstellung, dass diese alle gewählt, irgendwo gewünscht, plakatiert, in ihren Reden gehört worden sind, dass es Gemeinden und Wahlkreise gibt, in denen diese Personen als vertrauenswürdig und richtig empfunden wurden, Orte, in
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