Das Hohelied des Todes
die Luft. Zu unsicher und zu aufwendig. Und außerdem viel zu auffällig.«
»Vielleicht wollte Dustin bei der Versicherung abkassieren.«
»Cecil hatte den Schuppen nur gemietet, und die Fotoausrüstung, die da noch rumlag, war höchstens zwei Riesen wert. Deswegen läßt man kein ganzes Gebäude hochgehen.«
»Aber irgendwer wollte uns damit etwas sagen.«
»Stimmt. Irgend jemand wollte den großen Mann markieren.«
Im Sekretariat der Mar-Vista-High-School mußte Decker sich sehr anstrengen, die bieder gekleidete, angegraute Dame mit dem schütteren Zuckerwattehaar nicht dauernd anzustarren. Aber sie sprühte so vor Lebendigkeit, daß er sich den einen oder anderen heimlichen Blick nicht verkneifen konnte.
»Kann ich Ihnen inzwischen einen Kaffee anbieten, Sergeant?« sagte sie und sprang schon wieder vom Stuhl hoch.
»Nein, danke«, antwortete er. Sie klang genau wie Tante Bea aus der alten Andy-Griffith-Show. »Während ich warte, würde ich mir gern ein paar Jahrbücher ansehen. Wo bewahren Sie sie auf?«
»Das vom letzten Jahr habe ich in meinem Schreibtisch«, sagte sie und zog eine Schublade auf.
»Ich bräuchte die Jahrgänge von 1969 bis einschließlich 1978.«
»Ach, du liebe Güte«, sagte die Frau und faßte sich an die Wange. Sie hustete, kratzte sich am Kopf und stand auf. »Einen Augenblick, mal sehen, was ich für Sie tun kann.«
Zehn Minuten später war sie wieder zurück und sagte freundlich: »Wir haben Sie nicht vergessen, Sergeant. Aber es dauert eben seine Zeit, alte Unterlagen wieder auszugraben, vor allem, alte Krankenblätter. Wenn Sie sich mit Abschriften begnügt hätten, wäre es schneller gegangen. Die sind nämlich wesentlich leichter greifbar. Aber Abschriften nützen Ihnen nichts, nicht wahr?«
»So ist es.«
Sie legte ihm einen Stapel Jahrbücher auf den Tisch. »Bitte schön.«
»Danke.«
Zuerst nahm Decker sich Dustins Jahrbücher vor. Aus der Beschreibung unter seinem Abschlußfoto ging hervor, daß er sich an der Schülerverwaltung beteiligt hatte und Mitglied des Arbeitskreises Spanisch, des Honors-Clubs, der freiwilligen Lerngruppe sowie der Football-B-Mannschaft gewesen war. Er wirkte steif und ernst, sah aber trotz seiner feierlichen Pose attraktiv aus.
Decker schaute sich das Jahrbuch von 1978 an, Earls Abschlußjahr, doch der jüngere Pode tauchte nirgends auf. Wahrscheinlich war er vorzeitig von der Schule abgegangen. Er probierte sein Glück mit dem Jahrbuch von 77. Nichts. Aber im 76er war Earl noch aufgeführt; er war seinem älteren Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten.
Die Ähnlichkeit war verblüffend, wenn auch Earls Züge ein wenig weicher und nicht so melancholisch waren. Noch stärker sprangen ihm allerdings die Übereinstimmungen bei den schulischen Aktivitäten ins Auge, an denen der jüngere Bruder sich beteiligt hatte – Schülerverwaltung, freiwillige Lerngruppe, Arbeitskreis Spanisch und Football-B-Mannschaft. Auf dem Mannschaftsfoto hockte er dick gepolstert in der ersten Reihe, einen lächerlich grimmigen Ausdruck im schmalen Gesicht.
Die Brüder schienen bis zu einem bestimmten Punkt den gleichen Weg gegangen zu sein. Aber was war dann geschehen?
1977, das Jahr des Brandes, das Jahr, in dem ihre Mutter gestorben war. Und 1977 hatte Earl die Schule verlassen.
Decker starrte auf das Gruppenbild. Manche der Jungen gaben sich möglichst gefährlich und furchterregend, wodurch sie zum Teil nur um so zaghafter und ängstlicher wirkten.
Ein Gesicht kam ihm merkwürdig bekannt vor.
Rasch blätterte Decker zum Namensregister der elften Klasse zurück. Cameron Smithson mit Milchgesicht.
Decker sah sich das 78er Jahrbuch noch einmal genauer an. Smithson hatte den Abschluß gemacht, aber ohne besondere Auszeichnungen. Lediglich als Tailback der zweiten Angriffsreihe in der B-Mannschaft des Footballteams hatte er sich hervorgetan. Stirnrunzelnd klappte Decker das Buch zu.
Die quicklebendige Frau kam lächelnd ins Zimmer. Sie hielt einige Akten in der Hand.
»Hier sind Ihre Unterlagen, Sergeant«, verkündete sie, auf den Zehen wippend. »Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, daß wir sie finden.«
Er überflog die Krankenblätter – Erkältungen, Infektionen, Knochenbrüche nach Stürzen. Bei manchen dieser Stürze hatte jemand nachgeholfen, das wußte Decker. Sie waren eher eine Folge von Mißhandlungen als von Unfällen. Endlich fand er, wonach er gesucht hatte. In der vierten Klasse war Dustin bei einer Rangelei auf dem Schulhof ein
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