Das Hohelied des Todes
Rückzieher.
»Dann waren sie eben verliebt. Es hat ja keiner das Gegenteil behauptet. Wie lange sind sie also miteinander gegangen?«
»Über ein Jahr«, sagte Lisa. »Er ist ein netter Kerl, aber mehr ein Aussteiger. Er arbeitet freiberuflich als Fotograf und lebt irgendwie in den Tag hinein.«
»Wie heißt er?«
Alles schwieg. Decker wartete.
»Chris Truscott«, platzte Lisa schließlich heraus.
»Petze«, knurrte Brian.
»Hör zu, du Wichser«, schrie das Mädchen. »Wenn er was mit Lindseys Tod zu tun hat, dann soll er auch bestraft werden.« Sie warf Decker einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Bis heute war nichts daran auszusetzen, ihn zu decken«, sagte Decker. »Wären die beiden zusammen abgehauen, wäre es euch schließlich nichts angegangen. Aber jetzt wißt ihr, daß Lindsey ermordet worden ist. Sie wurde wahrscheinlich bei lebendigem Leib verbrannt und hatte große Schmerzen. Wieso sollte Chris ungeschoren davonkommen, wenn er es womöglich war, der den Scheiterhaufen angezündet hat?«
Schockiertes Schweigen. Decker konnte sich selbst nicht leiden. Es war ihm zuwider, Leuten auf diese Weise zuzusetzen, um ans Ziel zu kommen. Lisa rollten die Tränen über die Wangen.
»Er wohnt in Venice«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Die genaue Adresse weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es ist an der Ecke Vierte und Rose.«
»Wie alt ist er?«
»Zwanzig.« Die Antwort kam von Brian. »Ich weiß nicht, wie es mit euch ist, Leute, aber ich finde es beschissen, daß wir hier so über Chris reden, als ob er ein Verbrecher wäre. Er hat Lindsey geliebt.«
»Glauben Sie, daß Lindsey mit ihm durchgebrannt ist, Heather?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Decker konnte sie kaum verstehen.
»Erzähl ihm das mit dem Auftrag, Heather«, soufflierte Lisa.
»Was für ein Auftrag?« fragte Decker.
»Ein Fototermin«, antwortete Lisa. »Sehen Sie, Chris hat sich an dem Tag nämlich nicht mit Lindsey getroffen …«
»Warum läßt du es Heather nicht selbst erzählen? Schließlich hat Chris bei ihr angerufen«, mischte sich Brian ein.
Alle Augen richteten sich auf Heather. Sie zog die Knie hoch und schlang die Arme darum.
»Er hatte einen Fototermin«, begann sie mit leiser Stimme. »Ich glaube, es war eine Taufe oder eine Hochzeit. Ich weiß nicht mehr. Jedenfalls hat er gesagt, daß er deshalb nicht kommen kann. Ich sollte es Lindsey ausrichten. Er konnte sie nicht anrufen, weil ihre Eltern ihr verboten hatten, sich mit ihm zu treffen. Sie konnten ihn nicht leiden, obwohl sie ihn nur ein einziges Mal gesehen haben. Lindsey wollte ihnen nicht sagen, daß sie in Chris verliebt war. Sie sollten sich nicht aufregen. Also hat sie sie angelogen und behauptet, sie hätte mit Chris Schluß gemacht. Aber dann ist sie nicht aufgetaucht, und ich dachte mir, sie hätte es sich doch noch anders überlegt. Lindsey konnte nämlich die ganze Welt vergessen, wenn sie mit ihrem Make-up oder mit ihrer Maniküre beschäftigt war.«
Decker bat sie fortzufahren.
»Jedenfalls hat mich an dem Abend ihre Mutter angerufen«, erzählte Heather weiter. »Sie war völlig aufgelöst. Lindsey wäre nicht nach Hause gekommen. Ob sie vielleicht bei mir wäre? Gott, da habe ich mich selbst erschreckt. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Wo konnte Lindsey stecken? Im Einkaufszentrum war sie nicht aufgekreuzt, zu Hause war sie auch nicht … Vielleicht war sie tatsächlich mit Chris durchgebrannt, und er hatte mir nur deshalb gesagt, daß er sich in der Galleria nicht mit ihr treffen könne, weil er mich auf eine falsche Fährte locken wollte. Also habe ich Chris angerufen und ihn gefragt. Aber er hat geschworen, er wüßte von nichts. Ich hatte nicht den Eindruck, daß er gelogen hat. Und schließlich hat er sie ja auch wirklich, wirklich geliebt.« Sie machte eine Pause, dann sagte sie: »Ich habe immer und immer wieder über die Sache nachgedacht. Was war passiert? Was war der armen Lindsey zugestoßen? Ich habe ständig Alpträume. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll.« Sie drückte das Gesicht an ihre Knie und fing an zu weinen. »Ich fühle mich nicht besonders.«
Lisa legte ihr den Arm um die Schultern und wiegte sie sacht hin und her.
Was bist du doch für ein rücksichtsloses Schwein, dachte Decker. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er wenigstens auf der richtigen Seite stand.
Als Heather sich wieder etwas beruhigt hatte, fragte er: »Hat seit Lindseys Verschwinden
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