Das Hohelied des Todes
heute sind. Wir dürfen nicht vergessen, daß sie würdig befunden wurden, für die Nachwelt im Chumasch festgehalten zu werden.«
»Aber sie waren trotzdem Menschen«, sagte Decker. »Mit menschlichen Schwächen.«
»Das ist richtig.«
Decker klappte das Buch zu.
»Das Problem ist die Familie, Rabbi«, sagte er. »Die Familie bringt in uns allen unsere besten und unsere schlechtesten Seiten zum Vorschein. Bei jedem Verbrechen, das begangen wird, sucht die Polizei den Schuldigen als erstes in der Familie. Josef wurde von seinen eigenen Brüdern verkauft. Das überrascht mich gar nicht. Würde dieses Verbrechen heutzutage begangen, könnten wir Ja’akov Jahre des Kummers ersparen.«
»Chas vechalila.« Der Rabbi runzelte die Stirn. Er setzte sich hin und legte Decker den Arm um die Schultern. »Bewahre! Haschem verfolgt ein größeres Ziel, Peter. Josef sollte nach Ägypten gelangen. Wäre er nicht hingekommen, wären Ja’akov und seine Söhne verhungert. Haschem wußte, was er tat.«
Schulman nahm seine etwas zu große Kippa ab, um sich die weißen Haare glatt zu streichen, und setzte sie wieder auf.
»Dann wären die Juden natürlich auch nie in ägyptische Gefangenschaft geraten. Und das wäre wirklich schlimm, denn dann hätten wir ja auch kein Pessach!«
Er schmunzelte selbst über seinen Witz, doch sogleich wurde er wieder ernst.
»In der jüdischen Geschichte haben die Ereignisse die Tendenz, zur Hintertür hereinzukommen«, sagte er. »Wie zum Beispiel der Verkauf Josefs. Daraus folgte der Exodus: Moses, die Offenbarung, die Tora. Es heißt, daß nicht einmal der Messias offen zu uns kommen wird. Warum? Wann immer das Gute offen auftritt, ist auch der Jetzer hara da – der böse Geist, um es zu zerstören.«
»Ich kann an einen bösen Geist nicht glauben, Rabbi.«
Schulman schenkte Decker nach.
»Haben Sie denn nicht selbst tagtäglich damit zu tun?« fragte der alte Mann.
»Ich habe mit vielen schlechten Menschen zu tun«, antwortete Decker. »Und die meisten von ihnen wissen ganz genau, daß sie etwas Unrechtes tun. Aber es kümmert sie einen feuchten Dreck. Wenn man sie fragt, warum sie jemanden ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet haben, kann man bloß staunen, auf was für einfallsreiche Ausreden sie kommen. Der Verbrecher, der die Verantwortung für seine Taten übernimmt, ist die absolute Ausnahme. Mit dem bösen Geist kann man sich ziemlich einfach aus der Affäre ziehen. ›Ich konnte nicht anders, der Teufel hat mich dazu gezwungen‹.«
»Der jüdische Glaube sieht das, was Sie gerade beschrieben haben, genau andersherum«, erklärte Schulman. »Das Böse ist in uns allen. Das Gute ebenso. Der Mensch kann sich frei zwischen beiden entscheiden. Dazu gibt es einen sehr interessanten Midrasch. Vor dem Berge Sinai baten die Engel Haschem, nicht der Menschheit die Tora zu geben, sondern ihnen. Wer wäre schließlich besser dazu geeignet, Mizwot – Gutes – zu tun als ein Engel? Haschem lehnte ab. Nur die Menschheit konnte die Tora empfangen, weil nur die Menschheit sich aus freien Stücken dafür entscheiden konnte, Haschem zu ehren. Die Engel waren ausschließlich auf das Gute programmiert. Es ist keine Leistung, gut zu sein, wenn man sowieso durch und durch gut ist.«
Decker nippte schweigend an seinem Schnaps.
Schulman fragte: »Hatten Sie einen harten Tag, Peter?«
»Ziemlich.«
»Darf ich Sie etwas fragen? Was machen Polizisten, wenn sie einen harten Tag gehabt haben?«
Decker lächelte. »Sie saufen und jammern sich gegenseitig die Ohren voll.«
»Sie auch?«
»Ich? Nein, eigentlich nicht. Ab und zu habe ich mich auch schon vollaufen lassen, aber ich bin an sich kein großer Trinker.«
»Das sehe ich«, sagte Schulman und hob Deckers halbvolles Glas hoch. »Wie verkraften Sie es also?«
»Viele von uns kommen damit nicht zu Rande. Die Scheidungsrate unter Polizisten ist sehr hoch.«
»Haben Sie jemanden, mit dem Sie reden können?«
»Einen Seelenklempner, meinen Sie?« fragte Decker. »Ja, wir haben eine Polizeipsychologin, aber zu der geht man höchstens, wenn man sich vorzeitig in Ruhestand schicken lassen will.«
»Es past nischt, nu?« sagte Schulman. »Für einen richtigen Mann kommt so etwas nicht in Frage.«
»Sie haben es erfaßt«, antwortete Decker.
»Was tun Sie also, damit Sie nicht den Verstand verlieren?« hakte der alte Mann noch einmal nach.
»Ich reite«, antwortete Decker. »Und jetzt lerne ich ja auch.«
»Hilft Ihnen das Lernen?«
»Ja,
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