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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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stieg väterlicher Stolz hoch, er konnte nichts dagegen tun.
     
    Auf seiner Uhr war es Viertel nach sechs. Kaum zu glauben, daß er länger als anderthalb Stunden hiergewesen war. Um acht hatte er einen Termin beim Rabbi, also blieb ihm noch reichlich Zeit, sich etwas zum Essen zu machen. Aber er hatte keinen Hunger.
    Ein nettes Mädchen verschwindet und taucht, bestialisch ermordet, als Leiche wieder auf. So ein Szenario war wirklich nicht appetitanregend. Und was fast noch schlimmer war, er hatte im Grunde keine einzige Spur.
    Decker erkannte immer deutlicher, warum er um Versetzung aus dem Morddezernat gebeten hatte. Jedes Opfer war besser als ein totes Opfer. Sicher, auch so kam es oft genug vor, daß irgendein Schwein bei einem faulen Drogendeal über den Haufen geknallt wurde oder daß sich ein Junkie den goldenen Schuß setzte. Aber solche Geschichten brachten ihn nicht um seine Nachtruhe. Nur bei Fällen wie diesem hier kam ihm wirklich die Galle hoch.
    Ein nettes Mädchen.
    Er dachte an seine Tochter. Ihr konnte nichts passieren, redete er sich ein. Sie war vorsichtig. Aber die Worte klangen hohl. Vorsicht war nicht genug.
    Seine Tochter. Allein in New York.
    Er steckte sich eine Zigarette an.
    Wenn er nach Hause kam, würde er als erstes Jan anrufen. Cindy und Eric wollten zusammen wohnen? Er fand, das war eine ganz hervorragende Idee.

6
    »Ausgezeichnet«, sagte Rabbi Schulman und wickelte sich ein paar graue Bartsträhnen um den Zeigefinger. »Sie machen Fortschritte.«
    »Danke«, sagte Decker.
    Der Rosch-Jeschiwa klappte den Chumasch – die jüdische Bibel – zu. Sie saßen im Arbeitszimmer des Rabbiners, einem großen, holzvertäfelten Raum, der ebensoviel Wärme ausstrahlte wie sein Besitzer. Hinter dem großen Fenster lag friedlich die Nacht, und das vom Mondlicht gesprenkelte Laub sah wie eine mit Rauhreif gepuderte Winterlandschaft aus. Decker fühlte eine innere Ruhe, obwohl die Schaltkreise seines Nervensystems kurz vor dem Durchbrennen standen.
    »Lernen Sie die Stelle bis nächste Woche, und wir gehen sie dann gemeinsam durch. Lesen Sie sie ruhig auf englisch, aber sehen Sie sich auch das Hebräische an. Denken Sie immer daran, nach dem Schoresch zu suchen – den drei Stammbuchstaben im Wort.«
    »Ist gut.« Decker starrte in seine offene Bibel und blätterte in den hinteren Seiten. Irgendwie konnte er noch nicht Schluß machen.
    »Sie verbringen also den Schabbes bei uns?« fragte der Rabbiner.
    »Das hatte ich vor. Danken Sie Ihrer Frau noch einmal für ihre Gastfreundschaft.«
    »Ich werde es ausrichten. Und Zvi Adler möchte Sie zum Schabbes-Essen einladen. Ich fände es gut, wenn Sie seine Einladung annehmen würden.«
    »Gern.«
    »Sarah Libbah hätte Sie selbst angerufen, aber sie ist zu schüchtern, und deshalb hat Zvi mich gebeten, es Ihnen auszurichten.«
    »Sagen Sie ihm, daß ich gern komme.«
    Schulman erhob sich. Er hielt sich so aufrecht wie ein T-Träger. Er witterte Deckers Nervosität und ging zur Bar.
    »Einen Schnaps, Peter?«
    Einen Rachenputzer, dachte Decker. Es war ein Wunder, daß der Mann überhaupt noch eine Magenschleimhaut hatte. Dabei hatte er mit seinen mehr als siebzig Jahren mehr Energie als so mancher andere, der nur halb so alt war.
    »Danke, Rabbi. Gern.«
    Der Rabbiner gab Decker einen Schnaps und erhob sein Glas.
    »Le cha’jim«, sagte er.
    »Le cha’jim«, wiederholte Decker.
    Der alte Mann sah ihm über die Schulter und bemerkte den offenen Chumasch.
    »Faszinierend, nicht wahr?« Schulman trank das flüssige Feuer in einem Zug. »Von unseren Vorfahren zu lesen, Gottes auserwähltem Volk? Er sagte zu Ja’akov: ›Deine Nachkommen sollen so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel.‹ Und dann erfahren wir, daß Ja’akovs Söhne ihren Bruder Josef in die Sklaverei verkauft haben, weil sie von Eifersucht zerfressen waren, daß Miriam – eine Prophetin – verstoßen wurde, weil sie schlecht von Mosches Frau gesprochen hatte, daß Tamar, als Hure verkleidet, ihren Schwiegervater Jehuda verführte, um sich rechtmäßige Nachkommen zu sichern, daß Schim’on und Levi – Brüder im Geiste wie auch im Blute – die Vergewaltigung ihrer Schwester rächten, indem sie ein ganzes Volk auslöschten. Man könnte meinen, wir stammten von einer einzigen Räuberbande ab.« Der alte Mann hustete.
    »Doch das ist nicht wahr. Diese Männer und Frauen waren Gerechte, Peter. Sie waren in einer weit höheren Madrega – einer spirituellen Sphäre – als wir es

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