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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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geheimen Plan nicht ergründen konnte, nach dem Gott die Menschen belohnt und bestraft. Er konnte nicht verstehen, warum böse Menschen allem Anschein nach gedeihen, während rechtschaffene Menschen ins tiefste Unglück gestürzt werden. Ben Awuja konnte sich mit dieser Leerstelle in seinem Verständnis der Tora nicht abfinden. Dies führte dazu, daß er das Judentum völlig ablehnte und in Unmoral lebte. Von dem Augenblick an, da Elischa Ben Awuja vom Glauben abfiel, wird er in der G’mara nur noch Acher genannt – der andere, ein Euphemismus für einen Abtrünnigen.«
    »Wenn schon ein großer Rabbi seinen Glauben verliert, weil er Gottes Rechtssystem nicht begreift, wie soll ich es dann besser machen können?« fragte Decker.
    »Geduld. Uns bleibt ja noch Rabbi Akiva. Die G’mara sagt uns, daß er den Pardes in Frieden betrat und in Frieden wieder verließ«, antwortete Schulman.
    »Warum wurde er verschont?«
    »Die richtige Frage. Die Antwort lautet, daß Rabbi Akiva verschont wurde, weil er seine Grenzen kannte. Er wußte, was er nicht fragen durfte. Hakadosch-baruch-hu hat manche Seiten, die wir Sterblichen nicht hinterfragen können. Ja, so frustrierend es auch für rational denkende Geschöpfe sein mag, es gibt Dinge, die wir einfach blind glauben müssen. Sie nicht zu akzeptieren, heißt, nicht zu glauben. Und nicht zu glauben, verführt einen zu der Annahme, die Schöpfung sei nichts weiter gewesen als ein molekularer Zufall. Ich blicke mich um und sage, das ist unmöglich.
    Mord ist etwas Furchtbares. Das streite ich nicht ab. Der Grund dafür? Das ist eine Frage, die ich nicht stelle. Unser Leben auf diesem Planeten ist, gemessen am Jenseits, unendlich klein. Manches Leben ist kürzer als ein anderes. Uns mit unserem oberflächlichen Wissen mag das ungerecht erscheinen. Aber in Wahrheit ist es der Wille Haschems, und wir dürfen nicht einmal hoffen, seine Weisheit begreifen zu können. Wenn wir es versuchen, müssen wir scheitern und uns selbst zerstören.«
    Decker wollte etwas sagen, aber er schüttelte nur den Kopf.
    »Sie sind nicht zufrieden«, sagte Schulman.
    »Das wäre ein schwacher Trost für die Eltern eines ermordeten Kindes, Rabbi«, sagte Decker.
    »Ach, ein Kind!« sagte Schulman gequält.
    »Ein Teenager. Ein Mädchen, im gleichen Alter wie meine Tochter.«
    »Und Sie haben heute mit den Eltern des Mädchens gesprochen?«
    »Mit der Mutter.«
    »Was haben Sie ihr gesagt?«
    »Nicht viel. Ich habe hauptsächlich zugehört.«
    »Manchmal ist weniger mehr.«
    »Was würden Sie den Eltern eines ermordeten Kindes sagen, Rabbi?«
    Der Rosch-Jeschiwa verlor sich in seinen Gedanken, und er sank in sich zusammen, als ob das Gespräch schwer auf ihm lastete. Einige Zeit verging, bevor er antwortete. Dann flüsterte er vor sich hin: »Haschem natan, Haschem lakach, jehi schem Haschem meworach.« Zu Decker sagte er ruhig: »Wir haben unsere Kinder von Haschem nur geborgt. Wenn Gott in seiner unendlichen Weisheit das Leben meines Kind genommen hätte, wäre ich dankbar, daß es nun in den Händen des besten aller Väter sein dürfte.«
     
    Decker ging in die kalte Nacht hinaus und versuchte sich zu entspannen. Nach der Diskussion mit dem Rosch-Jeschiwa und den Ereignissen des Tages stand er wie unter Strom. Am Schlafsaal vorbei und quer über die briefmarkengroßen Grundstücke der Einfamilienhäuser joggte er Richtung Parkplatz, doch als er an Rinas Haus vorbeikam, blieb er stehen. Es war Viertel vor elf, aber es brannte noch Licht. Er zögerte, bog dann scharf nach links, ging zur Tür und klopfte leise an.
    »Wer ist da?« hörte er sie fragen.
    »Ich bin es, Rina. Peter.«
    Sie nahm die Kette ab und machte ihm auf.
    »Hallo«, sagte sie und ließ ihn herein. »Du kommst wie gerufen.«
    »Warum denn?«
    »Hier hat jemand Alpträume.«
    Deckers Blick blieb an Jacob in seinem Spiderman-Schlafanzug hängen. Es erstaunte ihn immer wieder, wieviel verletzlicher Kinder in ihrer Nachtwäsche aussahen.
    »Hej, Jakey«, sagte er und setzte sich zu ihm. Der Junge sah ihn aus offenen blauen Augen hellwach an. »Was hast du denn auf dem Herzen, mein großer Junge?«
    Jacob zuckte mit den Schultern.
    »Er wollte wissen, ob du den bösen Mann gefangen hast, der die Knochen im Wald versteckt hat«, sagte Rina.
    Verdammt, dachte Decker. Ein Kind zu lieben, heißt, mit Schuld zu leben.
    »Nein, noch nicht«, sagte er. »Jacob, der böse Mann tut dir nichts. Er wohnt ganz weit weg und kommt bestimmt nicht

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