Das Hospital der Verklärung.
zerteilte die Finsternis über Stefan, dessen Gedanken nun das Elternhaus verließen und sich den Erlebnissen des letzten Tages zuwandten. Betrachtete er die Familienbande, jene wechselseitige Verquickung von Interessen und Gefühlen, die Gemeinsamkeit in puncto Geburt und Tod im Lichte der reinen Vernunft, dann war das Eitle und Ermüdende daran unverkennbar. Fühlte er doch ein entlarvendes Feuer in seiner Brust, drängte es ihn doch, der Familie eine grausame Wahrheit ins Gesicht zu schreien, die ihr alltägliches und festtägliches Tun auf ein Nichts reduzierte; als er jedoch nach Worten suchte, die er den Lebenden hätte zurufen können, kam ihm der tote Onkel Leszek in den Sinn. Erschrocken hielt er inne. Nun hörte er zwar nicht auf zu denken, aber seine Gedanken entfalteten sich gewissermaßen im Selbstlauf, wobei er sie nur noch beobachtete. Eine wohlige Müdigkeit, der Bote des nahenden Schlafes, bemächtigte sich seiner, und da stand ihm mit einemmal das Gemeinschaftsgrab auf dem Dorffriedhof vor Augen. Das besiegte Vaterland war gestorben, und war dieser Ausdruck auch nur eine Metapher, so existierte doch das kleine Soldatengrab in Wirklichkeit. Was hätte man dort anderes tun können als schmerzbeklommenund zugleich freudig bewegten Herzens schweigend dazustehen im Vorgefühl einer Gemeinsamkeit, die größer ist als individuelles Leben und individueller Tod. Und gleich daneben nun Onkel Leszek. Stefan sah sein kahles, schneeloses Grab so deutlich wie im Traum. Aber er schlief noch nicht. Mit einemmal verschmolzen ihm Vaterland und Familie in eins; von seiner Vernunft verurteilt, lebten beide in ihm weiter oder auch er in ihnen, er wußte es nicht mehr und preßte im Einschlafen nur noch die Hände aufs Herz, denn er hatte das Gefühl, sich von ihnen frei machen bedeute den Tod.
EIN UNERWARTETER GAST
A LS STEFAN schlaftrunken die Augen öffnete, glaubte er seinem Bett gegenüber den altvertrauten Anblick des auf Löwenpranken aus vergoldetem Gips ruhenden ovalen Spiegels, der bauchigen kleinen Kommode und des grünen Schleiers, der vom Spargelkraut zwischen den Fenstern stammte, genießen zu können. Wie sehr staunte er, daß seine Erwartungen enttäuscht wurden; er lag sehr niedrig, knapp über dem Fußboden, in einem großen, ungewohnten Zimmer, das von lautem Glockenschlag widerhallte; in den von durchsichtigen Eisblumen überzogenen Fensterchen blaute der Morgen – fremd, denn es fehlte die graue Mauer des Hauses gegenüber.
Erst nachdem er sich, die Glieder reckend, aufgerichtet hatte, fielen ihm die Ereignisse des vergangenen Tages wieder ein. Er sprang bibbernd hoch, schlich ins Vorzimmer, nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken, warf ihn um und lenkte seine Schritte zum Bad. Durch die halboffene Tür drang Kerzenschimmer, apfelsinenfarben mit dem violetten Morgenlicht kontrastierend, das durch den Glasvorbau der Veranda ins Vorzimmer flutete. Das Bad war besetzt; Stefan erkannte Ksawerys Stimme, und ihn überkam das Gelüst, den Onkel zu belauschen. Er versuchte es vor sich selbst mit psychologischem Forschungstrieb zu rechtfertigen, er hatte nämlich tatsächlich manchmal geglaubt, daß es eine einmalige, endgültige Wahrheit über einen Menschen gibt, die sich einem offenbarte, wenn man den Betreffenden in einer einsamen Stunde auf frischer Tat ertappte.
So dämpfte er vor dem Bad seine Schritte und äugte durch den armbreiten Spalt hinein, ohne die Tür zu berühren.
Zwei Kerzen flackerten auf einer Glaskonsole. Von der Wand her quoll Dampf aus der Badewanne, in dicken, durch das Licht gelb scheinenden Schwaden, des Onkels Gestalt gespenstisch umwallend, der sich in leinenen Hosen und einem gestickten ukrainischen Hemd rasierte, vor dem beschlagenen Spiegel sonderbare Grimassen schneidend, und der mit Rücksicht auf das Rasiermesser ziemlich undeutlich, dafür aber mit Emphase deklamierte:
»Mein Fürst, pack alle diese saubren Sachen
(gehn sie in den verfaulten Kürbis nicht hinein)
in deine Hosen, um den Bottich vollzumachen …«
Stefan zögerte befremdet, unschlüssig, was er tun sollte, da sagte der Onkel, ohne sich umzuwenden, als hätte er seinen Blick gefühlt – er mochte ihn auch ganz einfach im Spiegel bemerkt haben –, mit völlig veränderter Stimme: »Na, gut geschlafen, Stefek? Du bist es doch? Los, komm rein, dann kannst du gleich baden, heißes Wasser ist da.«
Stefan wünschte dem Onkel einen guten Morgen und trat folgsam ein. Er wusch sich in aller Eile, ein wenig
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